Mythor - 054 - Vina, die Hexe
allmählich die Führungsrolle Mythor-Hongas zu akzeptieren. Sie hatte erkannt, daß er nicht gewillt war, sich lenken zu lassen. Es war ungewohnt für sie, aber sie konnte sich daran gewöhnen, daß sich ein Mann ihr nicht unterordnete.
Weiter und weiter bewegten sie sich über die Blutigen Zähne, der Regenbogen-Brücke entgegen, die irgendwo weit vor ihnen die nördliche und die südliche »Kieferhälfte« miteinander verband. Ramoa beobachtete, wie Honga diesem Ziel förmlich entgegenfieberte, und sie fragte sich, ob er sich nicht zuviel erhoffte.
Dabei wußte sie selbst nicht ganz genau, was sie dort erwartete.
*
Der Schatten fiel über Gerrek wie der eines Raubvogels, aber erst als der Mandaler aufgesprungen war, erinnerte er sich, daß es auf den Blutigen Zähnen nur Pflanzen, aber keine Tiere gab, also auch keine Vögel.
Verärgert sah er nach oben, gähnte dabei ausgiebig und rieb sich mit den Handrücken die Glubschaugen. Majestätisch langsam senkte sich der Zugvogel auf ihn herab, nur wenige Schritte von seinem Schlafplatz entfernt.
»Also ist es der lieben Vina gelungen, die Löcher zu flicken«, stellte Gerrek mißmutig fest. »Schade. Ich hätte gern noch ein paar ruhige Tage hier zugebracht. Jetzt geht die Hetze wieder los. Gerrek hierhin und Gerrek dorthin. Dabei will ich nichts als meine Ruhe.«
Die Gondel blieb in Gerreks Hüfthöhe in der Luft hängen. Die Tür wurde geöffnet, und Vina erschien. Sie warf einen schweren Anker hinaus, der sich halb um einen festverwurzelt aussehenden Strauch schlang.
»Hat man Worte?« rief sie. »Da liegt dieser Faulpelz in der Gegend herum und schläft, statt dem Helden zu folgen!«
»Faulpelz?« schrie Gerrek erbost. »Ich bin der fleißigste Beuteldrache, den es gibt! Außerdem habe ich nicht geschlafen, sondern lediglich mit geschlossenen Augen überlegt, was als nächstes zu unternehmen ist.«
»Ach, so nennt man das jetzt?« spöttelte die Hexe. »Was zu tun ist, sollte dir doch klar sein. Du sollst Honga weiter verfolgen und nicht am hellen Tag hier liegen und schlafen.«
»Es ist früher Morgen«, behauptete Gerrek.
Vina deutete zum Stand der Sonne. »Ich dachte immer, wenn die Sonne hoch am Himmel steht, ist der frühe Morgen vorbei und fast schon Mittag.«
Gerrek gab ein grämliches Knurren von sich. »Wenn ich nach erquickendem Schlaf die Augen öffne, ist es früher Morgen«, stellte er fest. »Auch, wenn es schon wieder dunkelt.«
»Gerade hast du noch behauptet, du hättest nicht geschlafen, sondern…«
Gerrek winkte heftig ab. »Man darf das nicht alles so verbissen sehen, sondern muß es im Ganzen betrachten. Dann ist alles viel einfacher. Wie sieht es mit einem guten Frühstück aus? Seit hundert Nebeln habe ich nur Pflanzen beknabbert.«
»Du bist erst ein paar Tage unterwegs«, stellte Vina richtig.
»Mir kommt es aber so lange vor«, maulte der Beuteldrache. »Wie sieht es nun aus? Willst du deinen treuesten und tapfersten Diener verhungern lassen?«
Vina seufzte. »Gut, komm herein und friß dich satt, bis dir der Beutel platzt!«
»Du unterstellst mir also zu allem anderen auch noch Verfressenheit«, knurrte Gerrek, kletterte in die Gondel und machte sich über die Fleischvorräte her. »Eh - wenigstens braten hättest du es können…«
»Das«, erwiderte Vina spitz, »ist eigentlich Aufgabe des Dieners und Gehilfen, also deine Aufgabe.«
»Ich weiß, ich weiß«, maulte der Drache mit vollen Backen. »Immer auf die Kleinen… Aber mit mir kannst du es ja machen. Wenn ich zu zweit wäre, könnte ich dich überstimmen.«
Vina lächelte. Schwach schienen ihre Ringe zu glühen.
»Ganz klar erkannt«, sagte eine Gestalt von der Tür her. »Trotzdem solltest du mir nicht alles wegfressen!«
Gerrek fuhr herum.
Seine blonden Haare sträubten sich. Ein zweiter Mandaler stand in der Tür der Gondel und starrte Gerrek griesgrämig an.
»Wer - wer bist du?« stieß Gerrek entgeistert hervor.
»Ich bin Gerrek, du unverschämter Vielfraß«, sagte der andere Beuteldrache. Augenblicke später löste er sich in Luft auf. Vina lachte leise.
»Du!« schrie Gerrek anklagend. »Du warst das! Du hast ein Scheinbild geschaffen! Das ist gemein!«
Vina winkte ab. »Wenn du mit dem Mampfen fertig bist, wirst du Honga weiter folgen. Und zwar über Land. Ich bleibe mit dem Zugvogel in der Luft ein wenig zurück. Das Luftschiff könnte den Helden vielleicht zu falschen Schlüssen verleiten.«
»Über Land?« fragte Gerrek.
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