Mythor - 055 - Luftgeister greifen an
also nicht bei allen dieser Ungeheuer gleich.
»Nach Süden«, flüsterte Ramoa, die die fliegenden Ungeheuer zum ersten Mal aus so großer Nähe sah. Bisher hatte sie sie immer nur hoch oben am Himmel dahin ziehen gesehen. Hier aber befanden sie sich in unmittelbarer Nähe!
»Ob sie uns bemerken?« Auch Gerrek flüsterte, als könnten seine gesprochenen Worte drüben bei den Luftgeistern gehört werden. Doch der Zugvogel war noch nicht von ihnen entdeckt worden.
Vina fuhr herum. Mit ein paar Schritten war sie an der Steueranlage, über die sie den Zugvogel lenken konnte. Das Luftschiff schwang jäh herum und glitt im Wind seitwärts davon.
Gerrek trat neben sie. Aus dem tolpatschigen Ungeheuer war innerhalb weniger Augenblicke der wachsame Kämpfer geworden. »Du hast doch noch etwas gesehen«, behauptete er.
Die Hexe nickte ihrem Diener zu. Ihr Gesicht war versteinert.
»Die Medusen werden gelenkt«, sagte sie.
*
»Gelenkt?« schrie Ramoa auf.
»Pscht!« machte der Mandaler. »Nicht so laut! Denke an meine empfindsamen Ohren!«
Vina winkte ab. »Halt den Rachen, Drache«, sagte sie. »Sicher werden sie gelenkt. Ich habe es gesehen, als wir nahe genug dran waren! Unter den Schirmen der fliegenden Pilze haben sich Bewohner der Schattenzone eingenistet. Da, die größeren von den Ungeheuern – sie tragen bis zu dreißig dieser Kreaturen! Und sie werden von ihnen gelenkt!«
»Dreißig?« hauchte Ramoa entsetzt.
»Drei mal zehn«, rechnete Gerrek ihr unnötigerweise vor. »Wenn die landen und über die Inseln marschieren…«
Es wurde immer wieder erzählt, daß die Kreaturen, die in der Schattenzone lebten, die Medusen als Transportmittel verwendeten. Solange sie sich an der Unterseite befanden, unerreichbar zwischen den Fangarmen und über der Öffnung, aus der die eingesogene Luft unter hohem Druck ausgestoßen wurde und damit der Meduse Geschwindigkeit verlieh, konnten die Luftgeister sich nicht gegen sie zur Wehr setzen. Und sich gegenseitig von ihren »Aufhupfern« zu befreien, waren sie zu dumm und zu tierhaft.
Hier sahen sie es jetzt zum erstenmal direkt in voller Lebensgröße, daß die Geschichten nicht übertrieben waren. Die Schattenzonen-Leute mußten es irgendwie schaffen, die Luftgeister zu beeinflussen und zu lenken, und zwar genau in die Richtung, in die sie wollten.
»Das sieht sehr böse aus«, murmelte Vina. »Ich denke, sie fliegen einen Angriff gegen die Große Barriere.«
»Und das muß mir unterkommen«, nörgelte der Mandaler. »Wie schön ruhig könnte ich jetzt in einem gemütlichen Haus wohnen, irgendwo an einem idyllischen Fleckchen von Vanga, und nahrhaftes Gemüse wie schmackhafte Haustiere züchten und meinen tausendfältigen Interessen und Leidenschaften nachgehen. Aber nein, ich muß in diesem schaukelnden…«
»Hä-ähem!« machte Vina energisch.
Gerrek verstummte. Bei der Erwähnung der tausendfältigen Interessen und Leidenschaften hatte sie anzüglich die linke Braue gehoben. Diese Leidenschaften waren im Grunde eine einzige: Gerrek stahl wie ein Rabe, wenn er in Stimmung war. Alles, was nicht vernagelt oder festgebunden war und dabei in seinen großen Bauchbeutel paßte, dem er den Namen Beuteldrache verdankte, nahm er mit, ob er es gebrauchen konnte oder nicht. Und Vina hatte zuweilen ihre liebe Not damit, wieder Platz zu schaffen, wenn Gerrek die Gondel allmählich mit allerlei glitzerndem und meist unnützem Kram zu füllen begann. Ganz zu schweigen von den wütenden Protesten der Bestohlenen, wenn sie merkten, wer da seinem Sammlertriebgefrönt hatte. Auch die Tau waren trotz des kurzen Aufenthalts nicht von Gerreks unheilvoller Leidenschaft verschont geblieben; stillschweigend hatte er die mitgenommenen Gegenstände irgendwo deponiert. Irgendwann würde Vina darüber stolpern und nicht mehr genau wissen, woher sie stammten.
Die Hexe schlug mit der Faust in die offene Handfläche. »Ich muß sofort zur Barriere«, stieß sie hervor. »Muß die Wächter warnen! Einem solch riesigen Schwarm von Medusen haben sie ungewarnt kaum etwas entgegenzusetzen! Und das ausgerechnet jetzt, wo Honga…«
Sie fuhr herum und sah aus ihren dunklen Augen Gerrek zwingend an. »Du mußt wieder hinunter, mein Lieber«, stellte sie fest. »Ich muß Honga an Bord nehmen, aber über der Regenbogen-Brücke schweben die Luftgeister! Ich kann nicht direkt hinunter. Du wirst zu Fuß dem Helden folgen und dich seiner annehmen. Ich fliege ein Ausweichmanöver und nehme euch
Weitere Kostenlose Bücher