Mythor - 104 - Inscribe die Löwin
ich sage.«
Sie ließ Mythor los.
Mit quälender Langsamkeit richtete sich Inscribe noch einmal auf. Zum letztenmal begann sie ihren Tanz, und niemand begriff, woher die Sterbende die Kraft dazu nahm.
Diesmal hatte Inscribes Tanz nichts Verlockendes an sich. Es war ein Totentanz, erschreckend und erschütternd. Mythor und die anderen spürten, wie eine tiefe Traurigkeit nach ihnen griff. Mescal schluchzte laut.
Inscribe tanzte. Der Reihe nach umtanzte sie alle Personen in der Tempelhalle, dann bewegte sie sich zum Ende der Plattform.
Noch einen Schritt machte sie, dann war sie verschwunden, hinabgesprungen in die Tiefe des Leeren Sees.
Mythor und Burra sahen sich an. Dieser Feind war bezwungen, aber mit großen Opfern. Mythor dachte an Obyge und die beiden anderen Amazonen, die Inscribe getötet hatte. Seltsam, daß ein Geschöpf mit so viel Mordgier derart bezaubernd sein konnte. Eines der vielen Rätsel der Schattenzone.
»Du hast ein Wunder vollbracht«, krächzte eine Stimme. »Du hast uns von einer Geißel befreit.«
Die Haryien, die bis zu diesem Augenblick ruhig gestanden hatten, drängten näher. Asmilai war die erste, die Mythor zu diesem Sieg beglückwünschte.
Mythor nahm die Gratulation mit gemischten Gefühlen an. Er entsann sich der Körperbilder, die er bei Siebentag gesehen hatte – danach hatte es eine Übereinkunft zwischen den Haryien und Inscribe gegeben, bei der – unter anderem – Inscribe von den Haryien den DRAGOMAE-Kristall bekommen hatte, den Mythor inzwischen an sich genommen hatte. Daß die sterbende Inscribe Mythor vor den Haryien gewarnt hatte und die Haryien den Bezwinger Inscribes nun überschwenglich feierten, paßte nicht ganz zu dem Verhältnis, das es früher zwischen Inscribe und den Haryien gegeben hatte. Bei diesem Dreieck wurde eine der Parteien gründlich verschaukelt, dieses Gefühl wurde in Mythor immer stärker.
Zudem behagte ihm nicht, dazu beglückwünscht zu werden, den Tod eines Geschöpfes herbeigeführt zu haben – es wäre Mythor lieber gewesen, mit Inscribe reden zu können.
»Jetzt gibt es ja wohl keinerlei Hindernisse mehr«, sagte Asmilai. »Du kannst uns in unseren Stock begleiten. Alle Haryien des Nesfar-Stocks werden glücklich sein, dich in ihrer Mitte begrüßen zu dürfen.«
»Ich möchte mich mit meinen Freunden bereden«, sagte Mythor. Er winkte Robbin und die anderen heran. Die Haryien zogen sich ein paar Schritte zurück.
»Wir werden diese Einladung wohl oder übel annehmen müssen«, sagte Mythor. »Unsere Arbeit auf diesem Land ist getan.«
Mescal machte eine heftige Bewegung, aber Mythor winkte ihm zu, er solle sich vorläufig ruhig verhalten.
»Was hat Inscribe dir gesagt?« wollte Burra wissen. »Hat es etwas mit den Haryien zu tun?«
Mythor nickte.
»Sie riet mir, den Haryien nicht zu trauen«, erklärte er.
»Was habe ich gesagt?« triumphierte Burra. »Da siehst du es – wir können diesen Flatterweibern nicht über den Weg trauen.«
Robbin wiegte den Kopf wickelte ein wenig an den Bandagen herum.
»Wir haben kaum eine andere Wahl«, sagte er sanft. »Ich glaube nämlich, daß die Haryien uns in Stücke reißen werden, wenn wir dieser Einladung nicht folgen.«
»Na«, sagte Mythor.
»Ein solches Angebot, das so freundlich vorgetragen wird, abzulehnen, werden die Haryien als schwere Beleidigung ansehen, und sie werden sich danach verhalten. Ich rechne mit dem Schlimmsten.«
»Schattenspäher«, maulte Gerrek. »Ich habe keine Angst vor diesen Haryien.«
»Also? Was machen wir?«
»Es ist deine Mission«, sagte Burra. »Es liegt an dir, Mythor.«
Der Krieger von Gorgan nickte.
»Wenn wir mit Inscribe fertig geworden sind, dann werden wir uns auch der Haryien erwehren können. Schließlich besitzen wir die Federn der Lylsae, die beiden DRAGOMAE-Kristalle, Alton – und nicht zuletzt uns selbst. Sollte das nicht genügen?«
»Hoffentlich«, sagte Burra düster.
Mythor lächelte.
»Ich würde mich auch lieber vor diesem Besuch drücken«, gab er zu, »aber ich sehe im Augenblick keine andere Möglichkeit.«
»Dann gehen wir also?« fragte Gerrek.
»Wir folgen den Haryien«, entschied Mythor. »Ich nicht!«
10.
Mythor sah auf. Er hatte es nicht anders erwartet – es war Mescal, der sich sträubte.
»Was willst du noch hier?« fragte Mythor sanft.
»Dharaphin finden«, stieß Mescal hervor. Er zitterte am ganzen Leib, sein Atem ging stoßweise.
»Du hast sie gesehen«, sagte Mythor. »Und sie hat dir geraten,
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