Mythor - 112 - Der magische Bann
sich die Not desjenigen, der ihn aussandte. Wer war es, der seiner Hilfe bedurfte und verzweifelt seinen Namen rief?
Mythor verspürte ein seltsames Prickeln auf der Kopfhaut und hatte das Gefühl, als stellten sich ihm die Haare im Nacken auf.
Als sich der Ruf zum dritten Mal wiederholte, noch deutlicher und eindringlicher, da erkannte er die Stimme urplötzlich.
Sie gehörte Nottr…
Nottr!
Mythor blickte sich suchend um. War es möglich, daß sein barbarischer Freund aus den Wildländern Gorgans ebenfalls ein Gefangener der Schattenzone geworden war?
Als er mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des schemenhaften Bauwerks blickte, in dem die Quaamen verschwunden waren, da war ihm auf einmal, als könne er die Nebel durchdringen.
Etwas wie eine dunkle Wolke erschien ihm. Darüber stand die Scheibe eines fast vollen Mondes. Er beschien eine Gruppe mehrerer Mannslängen hoher Langsteine. Und dazwischen eine Gestalt… Nottr?
Bevor Mythor Einzelheiten erkennen konnte, legte sich die dunkle Wolke vor den Mond und die seltsamen Steine – und gleich darauf hatte sich das Bild wieder in diffusen Nebel aufgelöst.
Mythor hatte eine ähnliche Erscheinung schon einmal gesehen, und zwar während der Betrachtung von Crytons Körperbildern.
Mythor! Mythor! Mythor!
Der Ruf wurde ferner, klang aber unvermindert verzweifelt, bis er endgültig erstarb.
Mythor verspürte auf einmal keinen Hunger mehr. Er vergaß alles andere, in seinem Geist hallte Nottrs Stimme eindringlich nach.
Aus der Gruppe, die sich zwischen den Knochen auf dem umgekippten Yarl-Panzer drängte, stach ihm Cryton ins Auge. Der Götterbote stand etwas abseits. Seine Haltung war entspannt, er wirkte zufrieden, schien seinen Hunger mit Knochenmilch gestillt zu haben. Jetzt hob er den Kopf und begegnete Mythors Blick.
Wie auf ein verabredetes Zeichen hin setzte sich Cryton in Bewegung und kam Mythor entgegen. Es war, als stünden sie beide unter einem Bann, der verlangte, daß sie einander zustrebten.
Als sie einander gegenüberstanden, war Cryton angespannt. Aber er machte keine abwehrende Bewegung, als Mythor nach seinem Umhang griff und ihn von seiner Schulter löste.
Sofort sprangen Mythor die unvergleichlichen Körperbilder des Götterboten ins Auge. Ihm schwindelte, und er glaubte, in die unglaubliche Welt dieser Bilder zu, stürzen. Nacheinander jagten Schneefalke, Bitterwolf und Einhorn an ihm vorbei. Mythor griff nicht nach diesen Bildern. Er ließ auch Fronjas Bild achtlos an sich vorbeiziehen. Ein Riese mit einem langgezogenen Schädel und gutmütigem Gesichtsausdruck tauchte aus Crytons Körper auf – ein Riese, so groß, daß er Bäume wie Ähren knickte.
Auch ihn ignorierte Mythor. Er wollte gar nicht wissen, was dieses Bild ihm zu sagen hatte. Er wollte etwas anderes erfahren. Ihn interessierte nur Nottrs Schicksal. Er wußte den Freund vergangener Tage in Not und wollte erfahren, wie er ihm beistehen könnte.
Nottr…
Finsternis sprang Mythor von Crytons Körper entgegen. Das Dunkel vermittelte den Eindruck von etwas so Bösem, daß Mythor zusammenzuckte. Aber er floh das Bild nicht, sondern vertiefte sich noch mehr darin, bis sein Blick so geschärft war, daß er Einzelheiten erkennen konnte.
Mächtige Langsteine erwuchsen aus der Schwärze. Sie bildeten einen Kreis und waren von Quersteinen überdacht. Diese Quersteine besaßen schalenförmige Vertiefungen. Und in einer dieser Schalen schien die Scheibe des Mondes förmlich zu liegen. Der Mond war nun voll. Aber da wurde die helle Scheibe an ihrem Rand verdunkelt. Schwärze begann den Vollmond aufzufressen, unaufhaltsam, bis der Vollmond eine schwarze Scheibe war.
Eine Gestalt war in dem mächtigen Tor, das zwei Landsteine und ein Querstein bildeten, aufgetaucht. Und darüber schwebte der schwarze Mond. Die Gestalt krümmte sich, schüttelte den Kopf, daß der einzelne Haarzopf wie eine Peitsche durch die Luft schlug. Die Muskeln der Arme spannten sich unter der ungeheuren Belastung, die der schwarze Mond ausübte. In der einen Hand schwang die Gestalt ein Krummschwert, hieb verzweifelt damit um sich, als gelte es, gegen Schatten zu kämpfen.
Und Mythor wußte: Das war Nottr, der an einem nahen Ort gegen das Böse des schwarzen Mondes ankämpfte, und der den ihn bedrohenden Mächten unterliegen mußte, wenn ihm niemand zu Hilfe kam.
Die Bilder barsten und entließen Mythor in die Wirklichkeit.
Als er zu sich kam, fand er sich zwischen den Knochenresten des Yarls wieder.
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