Mythor - 112 - Der magische Bann
steinerne Tor deutlich sehen, denn auch die Schwärze kennt, wie das Licht, verschiedene Abstufungen. Das Tor war bereits zum Greifen nahe. Es bedurfte nur noch weniger Schritte, um über die Schwelle zu treten und zu Nottr zu gelangen, der ihm, gegen irgendwelche Schatten kämpfend, entgegen kam…
6.
stong-nil-lumen
Donahin, der Oberste Priester, breitete die Arme aus, und Darkon, der Herr der Finsternis, sprach aus seinem Mund.
»Seht, wie es geschieht!« Seine Stimme hatte ein vielfaches Echo in der gewaltigen Halle. »Die Finsternis verschlingt das Licht!«
Die Priester in den Steinkreisen vernahmen die Stimme in ihren Gehirnen. Sie sammelten ihren Geist für das große Ereignis, für die Falle, die dem Sohn des Kometen bereitet war.
»Yhr wird auch die Welt verschlingen«, fuhr Darkon fort, »wenn das Licht sich nicht beugt. Und nicht nur Yhr ist hungrig. Sieben Schatten fallen bereits über diese Welt: die Schatten Shygs und Rhotas, Paraphaenes und Nomcuses, Corubes und Aescyls. Jeder dieser Schatten ist ein Kreis wie aus Stein – undurchdringlich für das Licht. Jeder Kreis ist ein Sieg. Jetzt steht ein anderer Sieg bevor. Laßt die Kraft fließen, die Yhrs Leib an diesen Ort bindet, denn die Schlangen sind blindes Gewürm. Sie kriechen über viele Welten und durch viele Zeiten und verzehren das Licht. Aber sie gehorchen der Kraft.«
*
Lella wurde durch Darkons schallende Stimme aus ihrer Teilnahmslosigkeit gerissen. Sie war noch immer nicht frei vom Bann der Steinkreise, aber sie war einen Augenblick lang wach genug, um zu erkennen, worauf ihre Augen seit geraumer Weile gerichtet waren, ohne daß sie es gewußt hatte.
Nottr!
Sie sah weder den gewaltigen Leib Yhrs noch das magische Labyrinth.
Sie nahm Thonensen nicht wahr, der kaum ein Dutzend Schritte neben ihr stand und verzweifelt auf den unerreichbaren Keilstein starrte.
Sie hatte weder Augen für die Priester noch Ohren für die Worte des Herrn der Finsternis.
Sie sah nur Nottr.
Sie kam auf die Beine und begann zu laufen.
»Nottr!« rief sie.
Parthan fuhr herum, um sie aufzuhalten, doch sie stieß ihn zur Seite.
Vor ihr trat Nottr in den schrecklichen Garten Yhrs.
Sic zögerte keinen Atemzug lang.
*
»Der Barbar ist jetzt bereit.«
Die Worte hallten in Nottrs Schädel nach. Es war ihm auch, als hörte er jemanden seinen Namen rufen, aber es war bedeutungslos. Wirklich war nur der Drang, vorwärts zu gehen, und obwohl ihn der Garten mit Grauen erfüllte, zögerte er nicht einen Augenblick.
Schon nach wenigen Schritten war es, als stürzte er kopfüber in kaltes Wasser, und als er auftauchte, war sein Kopf klar.
»Imrirr!« keuchte er.
Der Bann war gebrochen.
Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Er erinnerte sich, was er gesehen hatte: die Umwelt, die immer in Bewegung war, die Wege, die verschwanden und sich veränderten, die Ungeheuer auf manchen von ihnen, das steinerne Tor, bei dem Sicherheit zu finden war.
Yhrs Labyrinth hatten sie es genannt. Ein Irrgarten voller Gefahren. Er mußte das steinerne Tor erreichen!
Aber weshalb war er hier?
Zum erstenmal wurde ihm bewußt, daß er Seelenwind in der Faust hielt. Ah, wenigstens war er gut gerüstet für die Gefahr!
Der Weg vor ihm verschwamm unter grauem Nebel. Schwarzer Schleim rann zähflüssig an seiner Stelle. Er wich zurück, doch da tat sich ein anderer Weg für ihn auf, der sicher und wirklich genug aussah. Als er dort entlanglief, hörte er hinter sich jemanden rufen.
»Nottr! Nottr!« Es war Lellas Stimme.
Er hielt überrascht an. »Ich bin hier, Lella.«
»Wo, Nottr? Ich kann dich nicht sehen… da sind überall… Wände…«
»Kannst du die Richtung aus meiner Stimme hören?«
»Ja… aber da ist kein Weg…«
»Nottr? Nottr?«
Das war unverkennbar Tauronds Stimme.
»Hier, Taurond«, erwiderte der Lorvaner.
»Wo?« Es klang weinerlich.
»Ich bin hier«, sagte Lella beruhigend.
»Sind wir alle hier?« rief Nottr. »Baragg? Keir? Thonensen?«
Keine Antwort kam.
Enttäuscht sagte Lella schließlich: »Wir sind die einzigen…«
»Wie kann ich euch nur finden?« jammerte Taurond. »Duzella geht es gar nicht gut, und Merryone kennt mich nicht mehr…«
»Hab keine Furcht, wir werden versuchen, einander zu finden.«
Aber das wollte nicht gelingen. Manchmal waren sie einander so nah, daß sie glaubten, sie brauchten nur die Hand auszustrecken. Dann wieder klangen ihre Stimmen fern.
Nottr wies sie an, auf das steinerne Tor zu achten, denn das sei
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