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Mythos Ueberfremdung

Mythos Ueberfremdung

Titel: Mythos Ueberfremdung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doug Sounders
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»Dolchstoßes« in den Rücken der Front gewesen. Jüdische Einwanderer aus dem Osten wurden von weiten Bevölkerungskreisen als politische Bedrohung empfunden. Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen warnten mit düsteren Worten vor den subversiven Neigungen der Juden aus Polen und Russland.
    Selbst als die Juden in Deutschland immer häufiger Opfer von Gewalt und Verfolgung wurden, sah sie ein großer Teil der Öffentlichkeit unbeirrt als Anstifter solcher Vorgänge. Diese Vorstellung war natürlich absurd. Die Juden in Deutschland hielten, wenn sie überhaupt etwas unternahmen, auf tragische Weise still. Sie reagierten nur selten mit Gewalt, selbst als sie schon die Erniedrigung und den Terror, der mit den antisemitischen Gesetzen verbunden war, über sich ergehen lassen mussten. Aber der Gedanke, die Juden seien zu revolutionärer Gewalt fähig, hatte in der Öffentlichkeit, unterstützt durch Buchbestseller und politische Programme, weite Verbreitung gefunden. Herschel Grynszpan, ein in Paris lebender polnischer Jude, reagierte im November 1938 auf die Nachricht, dass seine Verwandten in Hannover gewaltsam aus Deutschland deportiert worden seien, mit dem Kauf einer Pistole, ging in die deutsche Botschaft und erschoss einen Diplomaten. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels wusste, dass dies ein seltenes und isoliertes Einzelereignis war, aber er wusste genauso gut, dass ihm die Parteimitglieder und ein großer Teil der Öffentlichkeit die Behauptung, dieser Vorfall sei Teil einer umfassenderen Verschwörung gewesen, bereitwillig abnehmen würden. Also nutzte er das Pistolenattentat als Vorwand, mit dem sich die Straße mobilisieren ließ. Das Ergebnis war ein landesweites Wüten mit zahlreichen Morden, Verhaftungen, Plünderungen und dem Niederbrennen von Synagogen in ganz Deutschland und Österreich, das unter der Bezeichnung »Reichskristallnacht« in die Geschichte einging.
    Die Tatsache, dass die deutsche Öffentlichkeit diese Übergriffe zuließ, verweist darauf, dass sie die Juden mittlerweile als Ausländer sah. Die Deutschen waren – selbst wenn sie nicht im vollen Umfang mit der rassistischen Propaganda der NSDAP übereinstimmten – durch Schriften und politische Beeinflussung mit Erfolg davon überzeugt worden, dass die unter ihnen lebenden Juden niemals ein Teil ihrer Gemeinschaft sein würden. Die weitverbreitete Überzeugung erklärt zumindest teilweise, warum die eskalierende Gewalt, bis hin zum völligen Verschwinden aller Juden und ihrer massenhaften Ermordung im Rahmen der »Endlösung«, in der Öffentlichkeit auf so wenig Widerstand stieß. Die sich gegen die Einwanderer richtenden Erzählungen von der »jüdischen Flut« lösten den Holocaust nicht aus, der nur durch die intensiv propagierte ethnisch-nationalistische Politik und die Rassentheorien der extremen Rechten möglich wurde, aber sie schufen eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der selbst die schlimmsten Gräueltaten straflos geschehen konnten und eine Mehrheit der Bevölkerung West- und Mitteleuropas die Vorstellung akzeptierte, ihre jüdischen Mitbürger seien feindselig gesinnte Außenseiter.
    Wir erleben immer wieder dasselbe, wenn eine neue Gruppe von Einwanderern ins Land kommt, die einer religiösen Minderheit angehören, zumeist arm sind und kaum über Kenntnisse der Sprache, der Lebensart und der Funktionsweise der Wirtschaft in ihrem neuen Heimatland verfügen. Autoren aller Art und Politiker bieten dann stets, als Reaktion auf die öffentliche Unruhe wegen dieser fremden Neu ankömmlinge, dasselbe Spektrum ängstlicher, beängstigender Ideen an: Sie sind anders als frühere Gruppen. Sie wollen sich nicht integrieren. Ihre Religion zwingt sie, uns ihre Werte aufzunötigen. Mit ihren vielen Kindern werden sie uns überschwemmen. Sie sind illoyal und zu Gewalt fähig. Die Ähnlichkeiten zwischen den Argumenten, die gegen Katholiken, Juden und Muslime vorgetragen werden, sind kein Zufall: Es ist dasselbe Argument, das aus denselben Gründen vor getragen und auf die neueste und am stärksten fremdartig wirkende Gruppe angewendet wird.
    Die Geschichte wiederholt sich nie. Begleitumstände und Kontext jeder Einwandererwelle unterscheiden sich ganz erheblich von allen anderen, und das Ergebnis wird niemals genau gleich sein. Aber wir sollten lernen, das Muster zu erkennen, und uns an den langen, mühseligen Kampf um Integration erinnern, den diese früheren Wellen durchlitten. So können wir die Argumentationsmuster

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