Mythos Ueberfremdung
nicht so brüchig, dass sie durch die Ankunft von ein paar Außenseitern, die für andere Dinge stehen, erschüttert werden könnten. Wir sollten an die Stärke und natürlichen Tugenden unserer gemeinsamen Institutionen glauben; sie haben sich in der Vergangenheit als so widerstandsfähig und erfolgreich erwiesen, dass sie sehr viel größere und sehr viel unterschiedlichere Gruppen von Neuankömmlingen aufnehmen konnten. Das bedeutet nicht, dass wir einen moralischen Relativismus praktizieren sollten, in dem alles möglich ist. Ganz im Gegenteil: Die Grundlage einer Einwanderergesellschaft sollte immer eine gemeinsame, universell gültige Moral sein. Die winzige Min derheit, die an kriminellen Praktiken wie Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Ehrenmord festhält, sollte nach den Bestimmungen der Gesetze bestraft werden, ebenso wie die wenigen Katholiken, die sich noch in der gefährlichen Praxis des Exorzismus versuchen, vor Gericht gestellt werden sollten. Unsere Gesetze sind heute schon gut genug formuliert, um mit solchen Verirrungen fertig werden zu können. Unsere Gerichte, demokratischen Institutionen und Regierungen sind bereits stark genug, um mit allen denkbaren brisanten Nebenwirkungen, die sich aus den schwierigen Anfangsjahren der Einwanderung ergeben, umgehen zu können. Sobald die Neuankömmlinge zu einem Teil unseres Wirtschafts- und politischen Lebens werden, sorgt die Kultur für sich selbst. Sobald wir versuchen, diesen Einwanderern eine Kultur aufzunötigen – entweder eine fiktive, durch den Multikulturalismus geschaffene »muslimische« Kultur oder eine vorgefertigte, bürokratisch festgelegte Version »westlicher« Kultur, die von einer Assimilationspolitik ohne Bezug zu den sich verändernden und zeitlich begrenzten Bedürfnissen des Alltagslebens festgelegt wird –, beschädigen wir diesen Übergangsprozess. Kultur ist letztlich keine Ursache, sondern eine Wirkung.
Die Angst vor der muslimischen Flut ist die Angst, fortgeschwemmt zu werden, die Angst davor, dass die mächtig, konsequent und unveränderlich sind, während wir zerbrechlich, von Zeitströmungen abhängig und gefügig sind. Doch die Fluten kommen und gehen. Wir haben gesehen, wie sich bei jeder Welle armer Neuankömmlinge aus dem Ausland dasselbe Muster wiederholt: die Zusammenballung in sich selbst schützende Gemeinschaften; die Armut und der Ausschluss aus der umgebenden Gesellschaft; die Entfremdung der zweiten Generation; der Rückzug in einen an Selbstverteidigung orientierten Konservativismus und Glauben; die Versuchung, die vom religiösen Extremismus, und die Verlockung, die von kriminellen Banden ausgeht; die Auswirkungen von Gewalt und Konflikten im Heimatland – und dann, nachdem die schwierigen Zeiten weitgehend überwunden sind, die kleineren Familien, der Erfolg im Bildungswesen, die Annäherung an die Verhaltensweisen und die Werte im neuen Heimatland, die Normalisierung des Lebens.
Wir haben vergessen, wie hart das Leben in früheren Zeiten war und wie schwer vielleicht sogar unseren eigenen Vorfahren die Integration gefallen ist. Wir fürchten eine Flut fremden Glaubens und wir fürchten die Brüchigkeit unseres eigenen Glaubens, deshalb glauben wir nur allzu gerne die Geschichten von Invasion und Eroberung oder die Vorstellungen von festen und nicht miteinander zu vereinbarenden westlichen und östlichen Kulturen, oder wir glauben an eine allgemeinere Gefahr, zahlenmäßig übertroffen und überwältigt zu werden. Ich hoffe, dass ich zeigen konnte, dass diese Ängste unbegründet sind und die echten Konflikte und Rückschläge, die sich aus dieser Einwanderung ergeben, eher die Ausnahme als die Regel sind, so sehr sie auch unsere Wachsamkeit verdienen mögen.
Ich hoffe, dass wir bei der Analyse unserer jüngeren Geschichte in Bezug auf die sich rasch verändernde kulturelle Lebenswirklichkeit dieser neuen Einwanderer eine neue Sichtweise entwickeln können, die diese menschliche Flut nicht als erdbebenartigen und katastrophalen Tsunami wahr nimmt, sondern als regelmäßige Flut, als periodisch wiederkehrende Bewegung an unseren Küsten, wie wir sie früher bereits erlebt haben. Wir sollten uns daran erinnern, dass eine Flut etwas ist, das Dinge mitreißt, aber auch etwas, das regelmäßig wiederkehrt, Strömungen erzeugt, sich wieder zurückzieht und dabei eine neue Erscheinungsform derselben Landschaft zurücklässt. In Ufernähe mag das wie eine Flut wirken. Aus einem günstigeren Blickwinkel
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