Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
wahrscheinlich zum Ziel führen wird. Nur, wann hat man die Gewissheit, dass man sich richtig entschieden hat? Genau hier liegt das Problem, und es wird immer größer, je weiter man sich von der Gabelung entfernt hat. Zurück zu gehen und noch einmal von vorne zu beginnen, fällt mit jedem Schritt schwerer. Also geht man weiter und vertraut darauf, dass man seinerzeit die richtige Wahl getroffen hat – selbst dann, wenn unterwegs einige berechtigte Zweifel auftauchen. So lässt sich der Ausgangspunkt der Arbeit an der Selfish-Brain-Forschung beschreiben: Die Stoffwechselforschung war bereits vor Jahrzehnten an eine Abzweigung geraten und hatte auf ihrem eingeschlagenen Weg in teilweise bis heute noch verbreiteten Theorien zum Energiestoffwechsel implizite Grundannahmen getroffen, die nie wissenschaftlich hinterfragt worden sind – weder von Adipositas- noch von Diabetes-Forschern. Anders gesagt: Niemand hatte geprüft, ob der Weg, auf dem sich die Medizin befand, in die richtige Richtung führte. Das war mir im Jahre 1998 aufgefallen und bewog mich, diese Grundannahmen endlich einer genauen Prüfung zu unterziehen. Um nicht missverstanden zu werden: Solche Grundannahmen zu treffen, ist in der Wissenschaft durchaus üblich. Und zwar immer dann, wenn wichtige Fakten noch nicht vorliegen und man stattdessen aufgrund einer Hypothese weiterforscht, um zu sehen, ob sich im Laufe der Zeit ein klares, widerspruchsfreies Bild ergibt. So weit, so gängig. Normalerweise wird die Annahme aber zu einem späteren Zeitpunkt erhärtet. Nur so erhalten alle Erkenntnisse, die auf ihr beruhen, eine verbindliche Aussage, also echten Erkenntnisgewinn. So manches schöne Theoriegebäude ist schon in sich zusammengestürzt, als sich herausstellte, dass das Fundament (also die Grundannahme) nicht tragfähig war.
Aber aus schwer nachvollziehbaren Gründen wurde in diesem Fall nie versucht, eine wesentliche Grundannahme des bis heute gängigen Stoffwechselmodells vom menschlichen Körper – dass nämlich das Gehirn im Energiestoffwechsel den anderen Organen gleichgestellt sei – zu beweisen. Schlimmer noch: Eine richtungsweisende Untersuchung dazu, die bereits Anfang des 20 . Jahrhunderts veröffentlicht wurde, fand keine Beachtung. Schon damals hätten Zweifel an der Idee aufkommen müssen, dass das Gehirn im Energiestoffwechsel anderen Organen gleichgestellt ist. Genügt hätte dazu die einfache Frage, was mit dem Gehirn während einer Diät – oder nehmen wir den extremen Fall – während einer Hungersnot passiert: Nimmt es bei Drosselung der Energiezufuhr an Masse ab? Der Gleichstellungsannahme zufolge müsste dies so sein. Tatsächlich schrumpfen unter Nahrungsentzug nicht nur das Fett- und Muskelgewebe, sondern büßen auch die inneren Organe wie Herz, Leber, Nieren dramatisch an Substanz ein – um bis zu 40 Prozent (damit hängt übrigens zusammen, dass nach starker Abmagerung in der Folge Organschädigungen auftreten können). Das Gehirn aber hält sein Gewicht, egal, wie wenig Nahrung zur Verfügung steht. Dies lässt nur einen einzigen Schluss zu: Das Gehirn ist nicht gleichgestellt. Es verfügt selbst in extremen Krisenzeiten über Möglichkeiten, sich mit Energie zu versorgen – auch während massiven Nahrungsentzugs –, und das, solange der Organismus am Leben ist.
Wie gesagt, diese Erkenntnis ist nicht neu. Marie Krieger, Schülerin eines der Pioniere der Pathologie, Robert Rössle, forschte und publizierte dazu bereits in den frühen 1920 er Jahren. Sie hatte bei Menschen, die an Abmagerung gestorben waren, die Organgewichte bestimmt und festgestellt, dass fast alle Organe dramatisch an Gewicht verloren hatten, die Gehirnmasse aber kaum oder gar nicht verändert war. Auch mit modernsten Messmethoden ließ sich der originäre Befund sowohl in human- als auch in tierexperimentellen Studien bestätigen. Kürzlich konnten wir sogar zeigen, dass auch bei Menschen mit so genanntem »Übergewicht« das Gehirn unter einer Kalorienreduktionsdiät nicht abnimmt. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Energieverteilung innerhalb des Organismus eben nicht gleichmäßig erfolgt, sondern dass zwischen dem Gehirn und den anderen Organen eine Art Konkurrenzsituation um Energieressourcen besteht. Erstaunlicherweise haben auch diese neueren Studien zunächst keinen Nachhall in der »klassischen« Stoffwechselmedizin gefunden.
Doch warum nimmt das Gehirn nicht ab? Zunächst ersetzten wir die alte Grundannahme durch eine neue, die so
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