Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
dicker Arbeitnehmer verliert eher seinen Job als ein dünner. Man erkennt leicht, dass hier eine Art Teufelskreis entsteht – dicke Menschen werden eher gekündigt und finden schwerer wieder einen Job –, der nicht selten in Langzeitarbeitslosigkeit mündet. Tatsächlich wächst die Rate der Arbeitslosigkeit unter dicken Menschen überdurchschnittlich. Puhls Daten gelten nur für die Vereinigten Staaten von Amerika, ihre Erkenntnisse hingegen sind übertragbar: Generell ist zu beobachten, dass in Gesellschaften mit ausgeprägter Gewichtsdiskriminierung dicken Menschen der Zugang zu wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen gezielt erschwert oder verwehrt wird. Die Forderungen mancher Politiker nach einer »Dickensteuer«, nach höheren Krankenkassenbeiträgen für Dicke oder der Besteuerung energiereicher Nahrungsmittel sind bei dem Thema »Diskriminierung und wirtschaftliche Benachteiligung« nur weitere besorgniserregende Beispiele. Somit führt Gewichtsdiskriminierung letztlich dazu, dass die Einkommensdisparität in der Gesellschaft zunimmt (siehe Kapitel »Niemand ist eine Insel«). Dieses Problem ist nicht zu vernachlässigen. Denn Puhl sieht das Ausmaß von Diskriminierung dicker Menschen in den USA mittlerweile als mit Rassendiskriminierung vergleichbar an.
Doch es kommt noch schlimmer: Ausgerechnet dort, wo sich Menschen mit Gewichtsproblemen Verständnis und Hilfe erhoffen, sind die Vorurteile besonders groß – im Gesundheitswesen. Mit der Diskriminierung durch Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, Psychologen und Medizinstudenten befasste sich die Autorin besonders intensiv und stellte fest, dass dicke Menschen die am häufigsten stigmatisierte Patientengruppe sind. Von 2449 Frauen berichteten mehr als die Hälfte, Ärzte hätten ihnen gegenüber unangemessene Kommentare über ihr Gewicht fallen lassen. Der Hauptvorwurf von Medizinern lautet: Dicke sind nicht compliant. Unter Compliance verstehen Ärzte die Bereitschaft des Patienten, eine Therapie zu unterstützen – also zum Beispiel Medikamente zuverlässig einzunehmen oder einen Diätplan zu befolgen. Und genau hier befindet sich die Schnittstelle zwischen Rebecca Puhls Diskriminierungsbericht und der Selfish-Brain-Forschung. Solange Ärzte von dem widerspruchsbehafteten Konzept ausgehen, nach dem Starkgewichtige mit Diätprogrammen behandelt werden sollten, so lange werden ihre Patienten bei der Compliance zwangsläufig versagen. Nicht, weil sie willensschwach, faul oder inkompetent wären. Dagegen sprechen eindeutig die klinischen Daten. Sondern weil ihr Gehirn ein größeres Nahrungsangebot benötigt, als eine Diät ihm zugestehen will. Anders gesagt: Der erhöhte Kalorienbedarf dieser Menschen ist eine biologische Notwendigkeit. Damit stabilisiert sich ihr Hirnstoffwechsel unter stressvollen Lebensumständen. Das müssen wir Ärzte als Erste anerkennen, um diese Patienten als das zu sehen, was sie sind: Menschen, die in einem Umfeld mit starken psychosozialen Stressoren leben. Derartige Umgebungen lassen sich im übertragenen Sinne mit einem Haifischbecken vergleichen (darauf werde ich später noch ausführlich eingehen und erläutern, warum es so wichtig ist, das Haifischbecken zu verlassen). Nur auf der Basis dieser Einsicht werden wir sie auch angemessen behandeln, anstatt sie vorzuverurteilen. Das sind wir ihnen schuldig.
Gleichberechtigung für dicke Menschen: Das sind die Forderungen an die Gesellschaft
Der Artikel von Rebecca Puhl ist aber noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Und zwar in seiner Wirkung auf die Medizin, das Gesundheitswesen und die Öffentlichkeit. Dicke werden so stark stigmatisiert wie Menschen anderer Hautfarbe. Mediziner gehören, laut Puhl, zu den ärgsten Diskriminierern. Das sind sehr harte und konkrete Vorwürfe. Man sollte meinen, es hätte einen Aufschrei gegeben. Hat es aber nicht. Genau genommen ist Puhls Review von 2009 sogar nur die Aktualisierung einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2 001 . Auch damals war die Resonanz – gelinde gesagt – verhalten, in den USA und im Rest der Welt. Man könnte also zu der Auffassung kommen, das Thema werde seit Jahren totgeschwiegen. Zum Wesen von Diskriminierungen gehört Ignoranz. Ungerechtigkeiten aufzudecken, ist heikel und unbequem. Doch Diskriminierungen sondern ein stetiges Gift ab. Die Dosis ist meist nicht tödlich, aber sie wirkt im Verborgenen. Diskriminierungen sind Unrecht, sie unterminieren das Selbstvertrauen der Diskriminierten, können bei den
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