Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
gefährlich werden können als die Risiken einer großen Körpermasse (siehe Liste in Kapitel »Das Leben im Haifischbecken« unter »Warum dicke Menschen länger leben als dünne – die wahren Risiken von Stressbelastungen« ).
Wenn »Übergewicht« eine Krankheit ist, warum scheitern dann alle Therapien zur Behandlung?
Seit Jahrzehnten fragen sich Ernährungsforscher, Physiologen und Endokrinologen, was da eigentlich schiefläuft. Warum wird die Menschheit immer dicker, obwohl im selben Zeitraum weltweit Milliarden in Forschung, Aufklärung und Behandlung von Folgen oder möglichen Risiken der Gewichtszunahme geflossen sind? In Wahrheit ist die Situation medizinisch und gesundheitspolitisch längst ein Desaster, das sich kaum jemand eingestehen mag. Man macht weiter, mit altem Wissen und alten Methoden, obwohl auf der Hand liegt, dass der »war on obesity – der Krieg gegen die Fettleibigkeit« sinnlos ist. Angesichts dieser uneingestandenen Niederlage braucht man dringend einen Schuldigen. Irgendjemand muss doch für das Dilemma verantwortlich zu machen sein.
Stellen wir uns also folgende alltägliche Szene vor: Ein Mann mit hoher Körpermasse mittleren Alters betritt das Behandlungszimmer eines Arztes. Der kennt den Patienten seit Jahren. Zigfach hat er ihn ermahnt abzunehmen, hat ihm Sport und Diäten verordnet. Anfangs gab es kurzzeitige Erfolge. Doch der Patient wurde rückfällig. Jetzt wiegt er mehr denn je. Medizinisch betrachtet hat er das volle Krankheitsbild der »Adipositas«, der gesundheitsbedrohlichsten Form der Fettleibigkeit. Erneut wird der Arzt eine Diät empfehlen, vor den Risiken einer drohenden Diabetes-Erkrankung warnen, aber ohne innere Überzeugung. Zu oft hat ihn sein Patient enttäuscht. »Warum kann der Kerl eigentlich nichts durchhalten? Ich verschwende hier doch nur meine Zeit …« Solche Kommentare wird der Arzt nicht laut äußern, aber womöglich denken. Vielleicht fühlt er sich durch den wenig kooperativen Patienten auch gekränkt. Das Scheitern der Behandlung ist eine unübersehbare berufliche Niederlage. Und: Dieser scheinbar uneinsichtige Patient ist nicht der einzige. Bei allen anderen starkgewichtigen Patienten sieht die Situation ähnlich aus. Über kurz oder lang bleiben sie trotz aller ärztlichen Bemühungen dick oder werden sogar dicker. Mittlerweile ertappt sich unser Arzt dabei, wie er gedanklich auch füllige Patienten, die er noch nicht näher kennt, spontan als wenig zuverlässige, charakterschwache Menschen einstuft.
Gewichtsdiskriminierung – in den USA hat sie das Ausmaß der Rassendiskriminierung erreicht
2009 hat die amerikanische Psychologin Rebecca M. Puhl von der Universität Yale in der medizinischen Fachzeitschrift »Obesity« zum Problem der Vorverurteilung starkgewichtiger Menschen einen bemerkenswerten Review-Artikel veröffentlicht. Bei einer Review-Arbeit handelt es sich nicht um die Veröffentlichung originaler Forschungsergebnisse, sondern um eine Übersichtsarbeit, die verschiedene wissenschaftliche Studien zu einem Thema zusammenfasst. Puhls Artikel fasste 200 Arbeiten – teils von ihr selbst, teils von anderen Autoren – zur Diskriminierung von Starkgewichtigen in den USA zusammen. Bereits in der Einleitung macht die Autorin deutlich, wie brisant die Sache ist. Sie stellt fest: »Dicke Menschen werden stark stigmatisiert und sehen sich aufgrund ihres Gewichts verschiedenen Formen der Diskriminierung ausgesetzt. Das Ausmaß von Gewichtsdiskriminierung in den USA hat allein in den vergangenen zehn Jahren um 66 Prozent zugenommen …« Sie findet in den Familien statt, in Partnerschaften, in Kindergärten, in Schulen, an Universitäten, am Arbeitsplatz, in Krankenhäusern, Arztpraxen, Bussen, beim Supermarkt, im Kino (im Zuschauerraum und auf der Leinwand). Die Vorverurteilung dicker Menschen erfolgt nach stereotypen Mustern: faul, unmotiviert, mangelhafte Selbstdisziplin, weniger kompetent, unkooperativ und träge. Die Gesellschaft, so Puhl weiter, lässt diese Diskriminierung zu und setzt damit starkgewichtige Menschen sozialer Ungerechtigkeit und unfairer Behandlung aus. Das hat auch gravierende Konsequenzen für die Betroffenen: Detailliert zeigt Puhl auf, dass dicke Menschen schon bei der Einstellungspraxis in der Arbeitswelt systematisch benachteiligt werden, ebenso bei der Bezahlung (Dicke haben im Schnitt ein geringeres Einkommen als Schlanke), bei anstehenden Beförderungen und wenn es darum geht, Personal abzubauen – ein
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