Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
anpassen. Er forderte, dass Amerika seine farbigen Bürger so akzeptiert, wie sie sind. 1963 formulierte King seine Sicht der Welt so: »Ich habe einen Traum – dass meine vier Kinder eines Tages in einem Land leben werden, das sie nicht aufgrund ihrer Hautfarbe, sondern aufgrund ihres Charakters beurteilt.«
Von Martin Luther King zurück zur Diskriminierung dicker Menschen ist es zugegebenermaßen ein großer Sprung. Aber Ausgangspunkt war die Frage, ob Diäten ein Mittel beziehungsweise Ausdruck einer Form von Unterdrückung sind, wie wir sie von der Rassendiskriminierung kennen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir uns wiederholen, fassen wir Argumente und Gegenargumente zusammen.
»Normalgewicht«? Gibt es genauso wenig wie »Übergewicht«
Was ist eigentlich das Normalgewicht? Medizinisch versteht man darunter ein Körpergewicht, das in einer gesunden Relation zum Alter und zur Größe steht. Wer »übergewichtig« ist, befindet sich in einem Zustand, der nicht gesundheitsfördernd ist und unbedingt geändert werden sollte. So jedenfalls lautet die wohl am weitesten verbreitete Sichtweise in der Medizin. Was also wird ein Arzt, der dieser Sichtweise anhängt, empfehlen, wenn er einen »übergewichtigen« Patienten vor sich hat? Genau. Sein Gewicht zu reduzieren, zum Bespiel mit Hilfe einer Ernährungsumstellung, vulgo Diät.
Doch das Konzept vom Normalgewicht hat einen Haken. Es setzt nämlich voraus, dass der Stoffwechsel eines jeden Menschen in der Lage ist, »normal« zu arbeiten, unabhängig davon, ob seine Lebensbedingungen sicher oder unsicher sind. Mit dieser Prämisse verordnet ein Arzt seinem dicken Patienten eine Abnehmkur, um ihn wieder in den »Normalzustand« zu versetzen. Was aber, wenn es sich beim so genannten »Übergewicht« in Wahrheit um einen Hinweis auf eine geniale Anpassungsleistung im Hirnstoffwechsel handelt, die es dem Menschen erlaubt, in unsicheren, gefährlichen Lebenslagen besser zu überleben – es damit also gar keine allgemeingültige Norm für das Körpergewicht gibt? Bislang ging die Mehrzahl der Ärzte davon aus, dass Mehressen eine Frage von Disziplinlosigkeit ist. Man musste also nur seine Kalorien reduzieren, hart gegen sich selbst sein, und schon war das Problem mit dem Gewicht und seinen Folgerisiken dauerhaft lösbar. Doch ist das wirklich so? Sind also Millionen dicke Menschen Saboteure an der eigenen Gesundheit?
Dieser Frage sind die 38 Wissenschaftler in meiner Lübecker Forschergruppe »Selfish Brain« nachgegangen. Sie entdeckten, dass bei dicken Menschen tatsächlich eine von der Medizin bisher übersehene Veränderung im Hirnstoffwechsel vorliegt. Die Fähigkeit des Gehirns, Energie aus den Körperdepots zu ziehen, hat sich verändert oder, anders gesagt, angepasst. In sicherer Umgebung ist diese Fähigkeit aber die Grundlage eines ausgewogenen Stoffwechsels im menschlichen Organismus, bei dem das Gehirn genau die momentan benötigte Energiemenge aus dem Fett- oder Muskelgewebe anfordert – nicht mehr und nicht weniger. Erst später werden geleerte Depots durch Essen wieder aufgefüllt. Doch in einer unsicheren, gefährlichen Umgebung ist dieses Prinzip bei einigen Menschen abgeschaltet – zum Schutz vor Überlastung. Das ist als große Anpassungsleistung des menschlichen Organismus zu interpretieren. Diese Anpassungsleistung erfordert allerdings eine zweite grundlegende Umstellung, um den Hirnstoffwechsel im Gleichgewicht zu halten. Um also in dieser prekären, unsicheren Lage jederzeit die Energieversorgung des Gehirns zu gewährleisten, muss mehr gegessen werden als früher. Diese Überfluss-Schutz-Strategie funktioniert natürlich nur, wenn auch ausreichend Nahrung verfügbar ist. Eine solche Strategie ermöglicht es dem Gehirn, direkt auf die Glukose zuzugreifen, die aus der Nahrung ins Blut überführt wurde, und der überschüssige Blutzucker wandert in die Fettdepots. Dicke Menschen haben also bei Stress einen robusten Hirnstoffwechsel – das ist ihr Überlebensvorteil! Und das ist die Erklärung, warum Menschen in stressvoller Umgebung dicker werden – und diese Erklärung gilt für jede Form von Gewichtszunahme, unabhängig davon, welche weiteren Faktoren eine Rolle spielen.
Doch was passiert, wenn diese Form der Zuckerzufuhr eingeschränkt oder gar unterbunden wird – etwa durch eine Diät? Dann bricht eine Energiekrise im Gehirn aus, mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen, die wesentlich gravierender sein und vor allem schneller
Weitere Kostenlose Bücher