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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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weil es tröstlich war, war falsch. Das war ein Geisteszustand, den der britische Moralphilosoph Henry Sidgwick sich nur „als halbfreiwillige Irrationalität in einem heftigen Anfall philosophischer Verzweiflung“ vorstellen konnte.
    Das Jenseits war das größte Placebo der Welt.
    Sie nippte an dem Cocktail und verzog das Gesicht. Scheiß drauf, dachte sie, kippte den Pisco hinunter und bestellte einen neuen Drink.
    Es ging doch um Hoffnung. Durfte man denn nicht mal hoffen?
    Natürlich durfte man hoffen. Verdammt, irgendwie hoffte sie doch selbst, dass nicht alles hoffnungslos war. Aber wer hoffte, suchte nach Bestätigung. Nach Rechtfertigungen. Um glauben zu können.
    Und gab es denn wirklich nichts, gar nichts, was für ein Jenseits sprach?
    prach?
prWeiche von mir“, flüsterte sie. „Führe mich nicht in Versuchung.“
    Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und steckte sich sofort eine neue an.
    Es ging um viel mehr. Der Glaube an ein Leben im Jenseits bedeutete nicht nur Erleichterung für leidende Menschen. Sie ließen sich dann auch leichter überzeugen, ihre Lebensumstände zu akzeptieren – seien sie auch noch so ungerecht. Dabei gab es doch, abgesehen von Schicksalsschlägen wie Krankheiten oder Naturkatastrophen, für alles Leid letztlich eine einzige Ursache: Ungerechtigkeit.
    Eine Welle des Zornes rollte in ihr heran, und sie kippte den Pisco hinunter, als sei der Alkohol das Öl, mit dem sich die Wogen glätten ließen.
    Wenn man wirklich sagen könnte: „Siehe, Chancen und Güter sind wahrhaft gerecht verteilt“, wie sollte jemand dann einen Anspruch auf mehr rechtfertigen?
    Stattdessen hieß es: „Der Herr macht arm und reich. Jesus hatte die Armen auf das Reich Gottes vertröstet und nur Almosen verteilt. Einige Kranke geheilt. Und gefordert, barmherzig zu sein.“ Dazu brauchte man die Armen geradezu. Mutter Teresa hatte das verstanden. „Das Leid der Armen ist doch eine große Hilfe für den Rest der Welt“, hatte sie gesagt.
    Erneut brandete der Zorn heran. Sie winkte dem Barkeeper und deutete auf ihr leeres Glas.
    Den Reichen versagte Gott seine Liebe nur, wenn ihnen weltliche Güter zu wichtig wurden. Die Aufforderung, das Vermögen an die Armen zu geben, um einen Schatz in den Himmeln zu haben, war Werbung für Investitionen in das jenseitige Wohlbefinden. Die Ankündigung, dass eher ein Kamel – oder ein Tau, wie es eigentlich hieß – durch ein Nadelöhr ginge, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangte, hatte nichts mit Sozialprogrammen zu tun. Reich zu sein, war keine Sünde.
    Benedikt XVI. hatte es klar gesagt: „Das Christentum hat keine sozialrevolutionäre Botschaft gebracht.“ Jesus war kein Befreiungskämpfer gewesen. Die biblische Botschaft lautete vielmehr: „Glaube ist Hoffnung.“ Wer Hoffnung hatte, dem wurde ein neues Leben geschenkt. Denn diese Hoffnung war Erlösung. Selbst im größten Leiden wussten Christen, dass sie geliebt wurden.
    Und war das nicht beneidenswert? Wollte sie nicht auch geliebt werden? Aufgefangen auf eine Art, die Brian ihr nicht bieten konnte.
    Christen wurden geliebt, sogar wenn sie Sklaven waren. Und mit Sklaverei hatte selbst Jesus kein Problem gehabt. Wo in seinen Gleichnissen heute „Knecht“ zu lesen war, hatte ursprünglich das Wort „Sklave“ gestanden. Und Paulus war bei dem Thema immer zweideutig geblieben.
    Auch Martin Luther hatte die Bauernaufstände verurteilt, weil die weltliche Ordnung von Gott war. Und der Islam? Wo es heute noch Sklaven gab, wurde dies meist durch verschiedene Suren im Koran gerechtfertigt.
    Der Papst, dachte MacLoughlin, würde sagen, dass es trotzdem nicht darum ging, einfach nur auf das bessere Jenseits zu warten. Gläubige durften Leid natürlich bekämpfen. Man würde es aber nie aus der Welt schaffen. Und, hatte Benedikt gesagt, den Menschen heilte die Fähigkeit, das Leid anzunehmen und in ihm zu reifen, in ihm Sinn zu finden durch die Vereinigung mit Christus, der mit unendlicher Liebe gelitten hat.
    Aber es ging hier um Ungerechtigkeit, um Ausbeutung, um Sklaverei!
    Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus, begleitet von einem leichten Kribbeln in den Armen. Wer hatte behauptet, Alkohol sei auch keine Lösung? Wenn es darum ging, Verstand und Gefühle zu betäuben, dann kam seine Wirkung doch dem Glauben ziemlich nahe, oder etwa nicht? Und morgen würde sie vielleicht einen Kater haben, aber zumindest wieder klar sehen.
    Christen fühlten sich so sicher, ihr

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