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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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historischen Prozess entstanden und niedergeschrieben worden. Unter dem Anhauch des Heiligen Geistes nach dem Willen des Vaters aller Dinge durch Jesus Christus, wie Origenes von Alexandria erklärt hatte.
    Die Kirchenkritiker von heute waren ja nun wirklich nicht die Ersten, die auf die Widersprüche in der Bibel hinwiesen. Da hatte es zum Beispiel Abaelardus gegeben, einen Theologen des 12. Jahrhunderts, der mehr als 100 davon in den Texten der Bibel und der Kirchenväter aufgespürt hatte. Er hatte deshalb gefordert, die dogmatische Bindung daran aufzugeben. Indem wir zweifeln, so hatte er erklärt, gelangen wir zur Untersuchung, und durch diese erfassen wir die Wahrheit. Der Gedanke hatte d’Albret gut gefallen. Aber er hatte davon wieder Abstand genommen. Denn Abaelardus’ Lehre war schon damals als ketzerisch verurteilt worden. Nach dem Verständnis der Kirche besaß der Glaube eine innere Gewissheit, die sich auf das Zeugnis der Bibel und der Kirchenväter stützte. Auch der Papst selbst legte keinen Wert auf Zweifel und schien auf alle Fragen eine Antwort zu haben. D’Albret verstand sie nicht immer. Dafür war er wohl nicht Philosoph genug.
    Vielleicht hätte Bertrand ihm erklären können, wieso Abraham mit Gott rechten konnte, Hiob aber nicht.
    D’Albret stützte die Stirn auf seine Faust und seufzte tief.
    Immerhin erinnerte er sich gut daran, wie er seinen Vormund gefragt hatte, wieso Gott ganze Städte vernichtet hatte, mitsamt unschuldigen Kindern. Er war vielleicht zehn Jahre alt gewesen. Das konnte doch ein lieber Gott nicht tun, hatte er Bertrand vorwurfsvoll erklärt. Das war ungerecht. Merdrignac hatte ihm liebevoll die Hand auf den Kopf gelegt und ihm erklärt, dass es ein Missverständnis war, Gott für einen lieben Gott zu halten. Gott war kein lieber Gott, sondern ein liebender Gott. Wer liebte, verhielt sich nicht immer lieb. Er, Bertrand, liebte seinen Neffen von ganzem Herzen, fast so wie ein Vater seinen Sohn. Aber empfand Arnaud alles, was sein Vormund tat, als lieb oder gerecht? „Genauso war es mit Gott“, hatte Bertrand gesagt. Jener liebende Gott, den wir ja auch Vater nannten.
    „Letztlich läuft alles darauf hinaus, bestimmte, gut begründete Vorgaben zu akzeptieren.“ D’Albret hörte die Stimme des Kardinals in seinem Kopf. „Dann kann man aus der Bibel großen Gewinn ziehen. Gott zu gehorchen und den Nächsten zu lieben, das sind die zentralen Forderungen der Heiligen Schrift, die als Quintessenz immer übrig bleiben.“
    Wenn man allerdings begann, den Gott des Alten Testaments grundsätzlich infrage zu stellen, wie MacLoughlin, und wenn Jesus sich auf diesen Gott bezogen hatte …
    D’Albret wurde schwindelig. Gerade noch hatte er sich an seinen eigenen Argumenten und den Erklärungen des Papstes und Bertrands festhalten können wie an Leitersprossen. Jetzt verlor er plötzlich den Halt und stürzte kopfüber hinein in die tiefe Finsternis des Zweifels.
    „Meine Seele ist zu Tode betrübt.“ Wie eine Kerzenflamme leuchtete der Gedanken an Jesus plötzlich im Dunkeln. „Bleibt hier und wacht.“ Und Jesus sprach: „Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst.“
    Tränen rannen über d’Albrets Wangen. Wie einsam, wie verzweifelt musste der Gottessohn gewesen sein in jener Nacht im Garten Getsemani. Wie menschlich war dieser Gott geworden.
    Konnte jemand ernsthaft glauben, die Evangelisten hätten das nur erfunden?
    D’Albret schüttelte den Kopf. Ich spüre doch Jesu Gegenwart, dachte er.
    Doch es war nicht der Gottessohn, der ihm plötzlich an plötzgegenwärtig war. Völlig unvermittelt tauchte das Bild der Prostituierten aus Sevilla vor ihm auf. Dann sah er sich selbst, Hand in Hand mit Yvonne vor der Kirche in Génicourt. Warum quälte ihn sein Hirn mit Bildern seiner Sünden und mit der Ahnung einer unmöglichen Zukunft?
    Die Liebe zu einer Frau hatte ihn aus seinem Leben geworfen, die Liebe des Kardinals hatte ihm geholfen, die Prüfung zu bestehen. Und nun?
    Er massierte sich die Schläfen. Er wollte nicht mehr denken.
    Warum war es so schwer, Abstand zu geliebten Menschen und Orten zu halten, wenn dies der Seele doch gestatten sollte, in eine tiefere Gemeinschaft mit Gott einzutreten?
    Wieder hallte der Gedanke an den Tod Bertrands in seinem Schädel, schmerzhaft wie der dumpfe Schlag der Erde, die auf das Holz eines Sargdeckels fiel. Er ballte die Fäuste. Bei der Vorstellung, auf dem

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