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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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schreien. Sie musste sich unterhalb der Kante befinden. Jetzt begriff er, was der Niederländer vorhatte. Der Priester legte sich mit seinem Körper über dessen Oberschenkel, während van der Merwe in die Tiefe langte.
    York und die Peruaner kamen angerannt. Der Amerikaner versuchte, van der Merwe zu helfen, während Dionisio und seine Kameraden ihn und den Niederländer sicherten.
    Van der Merwe packte Tilly an den Handgelenken – sie konnte die Finger nicht von den Stauden lösen. Er musste, um sie hochzuziehen, nicht nur ihr Gewicht halten, sondern auch noch gegen die Kraft ankämpfen, mit der sich die Pflanzen an den Felsen klammerten.
    York redete auf Tilly ein. Dann versuchte er erfolglos, die Finger der jungen Frau von den Stauden zu lösen. Schließlich griff er in seine Hosentasche, holte ein Taschenmesser heraus und säbelte vor Tillys entsetzten Augen an den Pflanzen herum.
    „Hoch“, rief der Niederländer, als die letzte Staude erledigt war. „Holt uns hoch.“
    Plötzlich entglitten ihm Tillys Hände.
    York packte zu und hielt sie fest.
    Nach einer qualvollen Minute hatten sie Tilly zurück auf den Pfad gezogen. Die junge Frau lag rücklings auf dem Weg, ihre Brust hob und senkte sich, während sie keuchend nach Luft rang. Ihre Hände umklammerten noch immer Reste der Pflanzen.
    Neben ihr lag van der Merwe und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Nora, was machst du bloß?“
    Tilly hätte es ihm gern gesagt. Wenn sie es nur selbst gewusst hätte. Sie konzentrierte sich auf die Erde, auf Steine und Äste, die ihr in den Rücken kniffen. Langsam akzeptierte ihr Körper, dass sie in Sicherheit war.
    Sie hatte einen Schlag in den Rücken bekommen. Da war sie sich sicher. Aber wo war der hergekommen?
    „Mein Gott“, keuchte sie, ließ die Pflanzen los und krallte die Finger in die Erde.
    York stand neben d’Albret auf dem Weg und richtete den Strahl seiner Lampe auf Tilly und van der Merwe. „Was ist denn eigentlich passiert?“, fragte er.
    Tilly drehte sich auf den Bauch und stemmte sich auf die Knie hoch. „Ich bin gestoßen worden“, flüsterte sie. Die anderen schauten sie überrascht an.
    „Aber von wem denn?“, fragte van der Merwe.
    Sie schaute ihn hilflos an. „Ich weiß es nicht.“
    York leuchtete mit seiner Lampe den Weg ab. „Bist du vielleicht im Dunkeln gegen einen Ast gelaufen?“
    Er deutete auf die Bäume am Rand des Pfades. Hier und dort ragten in Schulterhöhe Aststümpfe in die Lücke zwischen Waldrand und Schlucht hinein.
    „Wenn du im Dunkeln dagegengestoßen bist, sich das könnte so angefühlt haben, als ob dich jemand schubst. Weil das so überraschend kommt.“
    Tilly stand auf und fuhr sich mit den Händen durch die Haadivurch dire. Van der Merwe legte ihr den Arm um die Schulter. Sie lehnte sich gegen ihn, klammerte sich an ihm fest.
    Dionisio entfachte im Lager das Feuer. Eine Weile saßen sie zusammen, schweigend, verwirrt, bemüht, Tilly das Gefühl zu geben, alles sei in Ordnung. Dann zogen sie sich hinter ihre Moskitonetze zurück und versuchten zu schlafen.
    Aber Tilly gelang das nicht. Sie lag mit offenen Augen auf ihrer Matte neben Arie und starrte durch den schmalen Spalt zwischen dem Dach und den Baumwipfeln zu den Sternen hinauf. Ihre Glieder schmerzten. Ihre Gedanken kreisten um den Augenblick, als sie den Schlag in den Rücken verspürt und den Halt verloren hatte. Was war da nur passiert?
    Da ist kein Ast gewesen, dachte sie. Ganz sicher nicht.
    Montag, 15. Juni, nahe Balsapuerto, Peru
    Als der Morgen graute und die Vögel in den umliegenden Bäumen ein lautes Konzert in den unterschiedlichsten Tonarten und Tonhöhen veranstalteten, hatte Tilly kaum geschlafen. Sie schlüpfte aus dem Moskitonetz und trat vor den Unterstand. Zwei schwarzblau schimmernde Vögel stießen aus einem großen Baum neben dem Teich herab und überquerten im Tiefflug die Lichtung. Mit ihren langen Schwanzfedern erinnerten sie Tilly an Elstern. Sie mochte Elstern. Das war doch ein gutes Zeichen, oder nicht?
    Auch Arie van der Merwe war aufgewacht und winkte ihr lächelnd von seiner Schlafstelle zu. Noch ein gutes Zeichen. Sie winkte müde zurück und ging zum Teich, um sich frisch zu machen.
    Es war sehr still während des Frühstücks. Die Erinnerung an den nächtlichen Vorfall schlug sich auf die Stimmung nieder, genau wie der Himmel, ein grob gepinseltes Aquarell, für das dem Maler alle Farben bis auf eine Reihe verschiedenster Grautöne ausgegangen waren. Lediglich

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