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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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unterbrach ihn MacLoughlin, „warum hat niemand daran gedacht, die Tochter nach Yurimaguas zu bringen, aber nicht zu einem Schamanen, sondern ins Krankenhaus?“ Sie schaute abwechselnd von Dan zu Pam. „Sind das die einzigen Alternativen? Beten oder Zaubern? Was ist mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, die helfen, Krankheiten zu bekämpfen? Es gibt doch Medikamente?“
    Pam setzte sich auf. „Es geht doch darum, wie bewundernswert stark im Glauben manche Menschen sind. Der Glaube dieses Mannes ist vorbildlich. Wie oft begegnen Ihnen noch Menschen mit einem solchen Glauben?“
    Jeder Einzelne ist zu viel, dachte MacLoughlin und biss die Zähne zusammen.
    „Und Terry hat noch etwas erzählt“, fuhr Pam fort. „Dieser Mann hatte auch deshalb die Kraft, diese Prüfung zu bestehen, weil er wusste, dass er seine Tochter im Paradies wiedersehen würde. Ist das nicht wunderbar?“
    Konnten diese Menschen das wirklich ernst meinen? Das waren US-Amerikaner. Sie kamen aus einem Land, das Menschen zum Mond geschickt hatte. Sie hatte gedacht, dass in den USA jrnain den emand, der sich so verhielte wie Abraham, jemand, der mit erhobenem Messer über dem gefesselten Leib seines Kindes erwischt würde, in die Psychiatrie eingewiesen würde. Aber diese Leute würden aus so einem Verrückten einen Heiligen machen.
    MacLoughlin schlang die Arme um sich und drückte das Kinn auf die Brust. Sie würde nicht versuchen, ernsthaft mit diesen Menschen über Religion zu diskutieren. Das wäre genauso sinnlos wie der Versuch, mit den Fundamentalisten in Somalia zu sprechen. Wie weit war der Weg von der Bereitschaft, lieber das eigene Kind sterben zu lassen, als dem Gebot eines Gottes nicht zu folgen, bis hin zu der Bereitschaft, Ehebrecherinnen zu steinigen? Im Prinzip kam es doch auf das Gleiche heraus, ob man jemanden sterben ließ oder umbrachte. Am Ende war derjenige tot, weil eine Religion, ein Gott das forderte. Nein, diskutieren würde sie nicht mit diesen zwei Evangelikalen. Aber eine Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen.
    „Wussten Sie, dass das Opferfest der Muslime dazu dient, die Gläubigen daran zu erinnern, dass Abraham – oder Ibrahim, wie er bei ihnen heißt – nach einem Traum bereit war, seinen Sohn Ismael zu opfern?“, fragte MacLoughlin die beiden Missionare.
    Pam und Dan sahen sich irritiert an. „Das ist … interessant“, sagte Dan schließlich. Angesichts der Verwirrung, die sie ausgelöst hatte, verspürte MacLoughlin eine gewisse Genugtuung. Aber sie war froh, als Dan schließlich ohne weiteren Kommentar aufstand und verkündete, sie würden die Fahrt auf dem Río Shihuarai jetzt fortsetzen. Als sie vor d’Albret die Holzleiter hinunterkletterte, wandte MacLoughlin sich an den Priester.
    „Sie haben die Geschichte gehört“, sagte sie leise. „Was halten Sie davon? Abraham als Vorbild für christliche Gläubige?“
    Nebeneinander gingen sie zum Ufer. Der Shawi, der zuvor mit d’Albret in einem Kanu gefahren war, ging zu einem anderen Boot hinüber. Offenbar nahm er an, dass die beiden Europäer die Fahrt gemeinsam machen wollten. MacLoughlin schaute ihm kurz hinterher, dann zuckte sie mit den Achseln. „Dann machen wir die Ruderpartie zusammen. Mal sehen, ob wir das hinbekommen.“
    Eines nach dem anderen lösten sich die Kanus vom Ufer, und die Gesellschaft paddelte in einer langen Reihe in die Mitte des Flusses, wo ihnen zum ersten Mal eine schwache Strömung Widerstand leistete.
    MacLoughlin stieß geschickt ihr Paddel in die Fluten. „Na?“, rief sie dem Priester zu. „Was denken Sie denn über das, was Dan uns gerade erzählt hat?“
    „Sie haben schon recht“, antwortete d’Albret. „Diese Leute hätten nach Yurimaguas ins Krankenhaus fahren sollen.“ Er hätte fast das Paddel verloren, als er im flachen Wasser auf Grund stieß.
    „Die Sache ist doch noch viel interessanter“, rief MacLoughlin. „Da verwehrt ein Vater seiner Tochter eine Behandlung mit Heilpflanzen, weil ein Schamane bei der Zubereitung Sprüche murmeln würde, die an Geister gerichtet sind. Dieser Vater verlässt sich lieber auf die von ihm selbst gemurmelten Sprüche, die ein anderes übersinnliches Wesen erhören soll. Aber wieso sind diese Evangelikalen – und Sie doch auch – so sicher, dass der Glaube an ihren Gott eine größere Existenzberechtigung hat als der ursprüngliche Glaube der Shawi? Als der Glaube der Griechen und Römer an die Götter des Olymp? Der Glaube an Ymir, Tuisto und die ganze

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