Mythos
dort war taub.
„Ich wollte zu Padre Belotti“, sagte sie leise. Die Wirkung des Elektroschocks ließ langsam nach. Dafür spürte sie jetzt die Auswirkungen des Angriffs auf ihre Psyche. Ihre Hände zitterten heftig.
Der Priester nickte. „Da kommen Sie zu spät.“ Er hob bedauernd die Arme. „Es tut mir leid, aber Padre Belotti ist gestorben.“
Tilly schaute auf den Boden. Gestorben, hatte er gesagt. Nicht ermordet. Also hatte tatsächlich niemand Verdacht geschöpft.
„Er hatte einen Herzinfarkt“, fuhr der Priester fort. „Aber es scheint, als wäre er friedlich in seinem Bett gestorben.“
Friedlich? Tilly holte tief Luft.
„Aber …“ Sie hatte nach den Brandspuren an Belottis Fingern fragen wollen. Doch die hätte er sich natürlich auch selbst an einer Kerze oder einem Herd holen können.
„Das ist traurig“, flüsterte sie stattdessen. „Ich habe ihn im Indienarchiv kennengelernt, und wir haben uns bei unserer Arbeit gegenseitig geholfen.“
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Ich bin Paläografin. Aus Deutschland. Ich habe einen deutschen Text für ihn übersetzt.“
Der Priester beugte sich vor. „Und heute wollten Sie ihn treffen, kommen hierher und stoßen auf einen Mann in seiner Wohnung, der Sie überfällt?“
Sie nickte. Dass die Reihenfolge nicht ganz stimmte, brauchte er nicht zu wissen.
„Und warum hat er Sie überfallen?“
„Ich weiß es nicht.“ Und das, dachte Tilly, war nicht einmal gelogen. Sie wusste es wirklich nicht. Sie hatte nur einen Verdacht. Der Gedanke ließ sie schaudern. Belottis Mörder war ihr also tatsächlich gefolgt – oder er hatte hier auf sie gewartet –, weil er etwas suchte, das der Mönch entdeckt hatte. Und das jetzt in ihrem Besitz war: die Kopien des Briefes und des Derrotero von Gaspar Riz de Santo Galo, die sie im Archiv hatte anfertigen lassen. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen.
„Und ich bin hier, weil Padre Belotti mir versprochen hat, ein Dokument aus dem Indienarchiv zu kopieren“, log sie. „Ich wollte es abholen.“
Der Priester stand auf und reichte ihr die Hand. „Ich heiße übrigens Arnaud d’Albret.“
„Nora Tilly.“
Er strich sich die Haare aus der Stirn. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Der Mann wirkte, als sei er in Gedanken woanders, weit weg von dieser kleinen Wohnung.
„Ich rufe jetzt erstmal die Polizei.“ Er griff nach dem Telefon, das auf dem Sekretär hinter ihm stand. Als er das Telefonat beendet hatte, wandte er sich wieder an Tilly. „Die schicken jemanden her.“ Er tastete erneut nach dem Riss unter seinem Auge H seinem.
„Wollen Sie etwas trinken?“, fragte er. „Wasser? Wein? Ein Bier? Etwas Härteres?“
Sie nickte. „Ein Bier wäre schön.“
D’Albret kam aus der Küche zurück, stellte ein Glas vor ihr auf die Arbeitsplatte und hielt ihr eine kleine Flasche hin. Er hatte sich ebenfalls eine Flasche mitgebracht und nahm einen großen Schluck.
„Sie haben also mit Belotti zusammengearbeitet?“, fragte er. „Ich habe Belottis Aufgabe übernommen. Und jetzt muss ich erstmal herausfinden, was er bislang gemacht hat.“ Er seufzte. „Er hat natürlich der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechung im Vatikan Bericht erstattet. Aber der zuständige Untersekretär, Monsignore Fagiolo, hat mir gesagt, dass der letzte Bericht schon einige Zeit zurückliegt. Und ich muss versuchen herauszufinden, wie weit er seitdem gekommen ist.“
Tilly stutzte. Hatte Belotti dem Vatikan also noch gar nichts von Juan de la Torres Begegnung mit Fray Bartolomé de Las Casas und mit dem Teufel berichtet? Und von den Papieren von Caspar Ritz?
„Padre Belotti hat mir von einigen Papieren erzählt. Und zufällig haben sie einen interessanten Bezug zu einigen Dokumenten, die ich im Archiv gefunden habe.“
Tilly wunderte sich selbst, wie leicht ihr alle diese Lügen über die Lippen gingen. „Deshalb wollte Belotti sie mir leihen.“ Erwartungsvoll blickte sie d’Albret an.
„Ein toller Zufall“, sagte der Priester abwesend.
Es klingelte an der Tür. Die nächste halbe Stunde verbrachten sie damit, zwei Polizisten zu erklären, was passiert war. Da nichts gestohlen worden war und das Opfer, Nora Tilly, offenbar keine sichtbaren Schäden davongetragen hatte, war die Motivation der beiden Polizeibeamten sichtlich gering, diese seltsame Straftat aufzuklären.
„Ich würde wirklich gern wissen, was dieser Mann hier wollte“, sagte Arnaud d’Albret, nachdem die
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