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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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zusammengehören.
    Aber das war nicht richtig. Er war überzeugt von der Berechtigung des priesterlichen Anspruchs, innerlich frei zu sein für Gott. Vacare Deo. Er durfte seine Liebe nicht auf eine Person konzentrieren, sondern auf den Allmächtigen, und er musste für alle Menschen da sein, nicht nur für einen. Es war richtig, sich um die Bedürftigen besonders zu kümmern. Es war seine Aufgabe, einer Witwe Trost zu spenden. Aber sie durfte sein Herz nicht in Beschlag nehmen und ihn daran hindern, auch anderen Liebe zu geben.
    Als er sich während der Priesterweihe vor dem Altar niedergeworfen hatte, hatte er das normale Leben mit seinen Lastern und Gelüsten hinter sich gelassen. Er war als Priester und als neuer Mensch wieder aufgestanden. Genau so hatte er sich gefühlt. Er war kein normaler Mensch mehr gewesen, sondern einer großen Aufgabe verpflichtet. Einer Aufgabe, der er sich ganz und gar widmen wollte.
    Yvonne hatte den Verlust ihres Mannes schließlich so weit überwunden, dass sie seine besondere Aufmerksamkeit nicht mehr benötigt hätte. Doch es war ihm nicht gelungen, sie nur noch als ein normales Mitglied seiner kleinen Gemeinde in Génicourt-sur-Meuse zu betrachten. Das Gefühl, das ihn bei ihrem Anblick überkam, hatte nichts mehr mit Mitgefühl zu tun. Es war auch sein Körper, der reagierte. Und sie fühlte das Gleiche, das hatte sie ihm sogar gesagt. Sie liebte ihn, ausgerechnet den Priester ihrer Gemeinde, und er liebte sie. Eur iebte sr hätte eine Entscheidung treffen müssen, und er hatte es nicht geschafft.
    Vor wenigen Tagen hatte er deshalb seinem Onkel und früheren Vormund Bertrand Kardinal Merdrignac am Telefon gebeichtet.
    Merdrignac, Mitglied der päpstlichen Kongregation für die Glaubenslehre, hatte ihm nicht nur die Absolution erteilt. Der Kurienkardinal war ein verständnisvoller Mann, der praktisch dachte. Innerhalb weniger Tage hatte Merdrignac eine Lösung gefunden. Ein Anruf beim Diözesanbischof von Metz, ein weiterer beim Generalvikar, und schon hatte die Gemeinde Génicourt-sur-Meuse einen neuen Seelsorger.
    In der Nacht zum 5. Juni hatte das Telefon d’Albret zuerst brutal aus dem Schlaf und dann aus seinem gewohnten Leben gerissen. Kardinal Merdrignac hatte die Dringlichkeit der Angelegenheit ganz offensichtlich begriffen. D’Albret war gerade noch die Zeit geblieben, seinen Koffer zu packen, sich für ein kurzes Gebet vor der Statue der Jungfrau Maria in der kleinen, alten Kirche Sainte-Marie-Madeleine auf die Knie zu werfen und dann zum Bahnhof Metz Ville zu fahren. Der TGV war fast pünktlich um 6.25 Uhr abgefahren. Dann war es vom Bahnhof Paris Nord zum Aéroport Paris – Charles de Gaulle gegangen. Weiter mit dem Airbus der Air Europa nach Barcelona. In Spaniens Hauptstadt mit einer Boeing 717 derselben Airline. Und am Nachmittag war er auf dem San Pablo Airport von Sevilla gelandet.
    D’Albret hatte seinen Koffer in der Wohnung eines toten Mönches unter das Bett geschoben, hatte sich einen Kaffee gemacht und war dann blindlings in die Innenstadt gefahren, im Kopf ein Lied von Tom Petty:
    I wanna glide down over Mulholland,
    I wanna write her name in the sky,
    I wanna free fall out into nothin’,
    Gonna leave this world for a while.
    Now I’m free, free falling.
    Er war heute tief gefallen, viel tiefer, als er sich das je hätte vorstellen können. Und jetzt lag er hier und heulte wie ein Baby. So lange hatte er gegen die Versuchung gekämpft und ihr widerstanden. Und nun? Vielleicht würde Gott ihm verzeihen. Würde Yvonne ihm verzeihen können, wenn sie jemals davon erfuhr? Und würde er sich selbst verzeihen können?
    Und wenn, was hatte es noch für eine Bedeutung?
    Freitag, 5. Juni, bei Jeberos, Peru
    Das schwarze Wasser kräuselte sich sacht hinter dem Ruderblatt, als Francesco Pérez das Kanu zum Ufer lenkte.
    Die Äste der Bäume hingen hinab bis zur Wasseroberfläche. Ein langer, schmaler, baumloser Streifen lehmige Erde unter einer sanften Böschung bot sich an, um das Boot an Land zu ziehen.
    Als der Boden des Kanus aufsetzte, sprang Pérez heraus. Er zog das Boot aus dem Fluss. Mithilfe eines Seiles befestigte er es am Stamm eines Baumes, der sich mit den Wurzeln in die Böschung krallte. Er hieb mit der Machete eine Fläche für sein Zelt frei. Auch direkt am Wasser wäre Platz gewesen. Aber er wollte nicht riskieren, einem Kaiman in die Quere zu kommen.
    Zwar nahm er an, dass das Wasser hier zu flach war für einen der seltenen, bis zu sechs

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