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Mythos

Mythos

Titel: Mythos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C Schulte von Drach
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Polizisten wieder gegangen waren. Er kratzte sich an der Wange und trat ans Fenster. „Und warum hat er bei dem Wetter eine Regenjacke getragen?“
    Tilly zuckte mit den Schultern. Sie starrte auf die Schubladen des Sekretärs.
    D’Albret drehte sich um. „Brauchen Sie noch meine Hilfe? Dann bin ich natürlich für Sie da. Wo wohnen Sie denn?“, fragte er. „Soll ich Sie nach Hause begleiten?“
    Er bemerkte ihren Blick. „Die Papiere?“
    „Ja, ich …“
    „Die können Sie gern durchsehen, aber bitte nicht jetzt.“
    Tilly kniff die Lippen zusammen. Das war besser als nichts. „Morgen Früh?“
    „Von mir aus.“ D’Albret schob die Hände in die Hosentaschen. „Also, soll ich Sie nach Hause bringen?“
    Der Gedanke, das Haus zu verlassen, machte Tilly Angst. Vielleicht wartete der Mann mit dem Elektroschocker noch irgendwo da draußen auf sie. Zu Fuß wollte sie auf keinen Fall zurück ins Hotel laufen. Sie bat den Priester, ihr ein Taxi zu rufen und sie hinaus vor die Tür zu begleiten.
    Eine Viertelstunde später saß sie auf der Rückbank eines weißen Mercedes mit gelbem Streifen und hielt durch die Heckscheibe die Autos im Blick, die ihnen folgten, während sie durch Sevilla kurvten. Ihr fiel nichts auf.
    Aber was hieß das schon.
    Freitag, 5. Juni, Sevilla, Spanien
    Als er in seine Wohnung zurückgekehrt war, ließ sich Arnaud d’Albret auf das Sofa fallen. Er riss sich das Kollar vom Hals und warf es auf den Tisch. Das weiße Halsband rutschte über das Holz und fiel zu Boden.
    Er fragte sich, wann er es wieder angelegt hatte – und wieso eigentlich. Wollte er etwa so tun, als sei nichts geschehen?
    Er knöpfte sein Hemd auf und öffnete eine zweite Flasche Bier. Nach einem langen Zug legte er den Kopf auf die Rückenlehne. Tränen rannen aus seinen geschlossenen Augen über die Schläfen und versickerten in den Haaren hinter seinen Ohren. Yvonnes Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. Sie blicch.ge. Siekte ihn traurig an. Dann wandte sie sich von ihm ab. Als sie sich wieder umdrehte, sah er nur noch das Lächeln der Hure. Er riss die Augen wieder auf, suchte nach Strukturen an der Decke, die seinen Blick eine Weile festhalten und ihn ablenken könnten. Vergeblich.
    Was er, Père Arnaud d’Albret, getan hatte, was ihm geschehen war, war so unglaublich absurd, so völlig unmöglich, so abgrundtief dumm, dass er an seinem Verstand zweifelte.
    Es wunderte ihn nicht, dass er aus der Entfernung in dieser Frau Yvonne zu erkennen geglaubt hatte. Das war ihm schon oft passiert. So war das wohl, wenn man verliebt war. Besonders in der Kirche, wenn er sich zur Predigt der Gemeinde zugewandt hatte, waren da immer wieder diese Augenblicke gewesen, in denen er ihren blonden Haarschopf in den hinteren Reihen zu sehen geglaubt hatte, und daneben Nicolas, ihren vier Jahre alten Sohn. Dabei war sie nicht zu ihm in die Messe gekommen. Nicht mehr, seit klar war, dass er das Gleiche für sie empfand wie sie für ihn.
    Sie kannten sich schon lange. Er hatte sich um sie gekümmert, nachdem ihr Mann kurz vor der Geburt von Nicolas bei einem Verkehrsunfall gestorben war. Er hatte ihr geholfen, Trost im Glauben zu finden. Im Glauben daran, dass ihr Mann jetzt an einem besseren Ort war. Im Glauben daran, dass man nicht versuchen musste, Gottes Pläne zu verstehen oder Zeichen in dem zu sehen, was uns zustieß. Im Vertrauen darauf, dass alles einen Sinn hatte, der aber weit über unseren Horizont ging.
    Er hatte ihr und ihrem Sohn beigestanden. Er hatte diese schwere Aufgabe gemeistert. Dabei hatte ihn zu der Zeit manchmal sogar immer noch das Gefühl der riesigen Verantwortung überwältigt, die er als Priester einer Gemeinde übernommen hatte. Er hatte die richtigen Worte gefunden. Er hatte ihr auf die Gleise zurückgeholfen und dafür gesorgt, dass die Weichen in ihrem Leben richtig gestellt wurden. Dass sich auch die Richtung seines Lebens geändert hatte, war ihm zuerst nicht bewusst geworden. Doch war da die eine Weiche gewesen, die in die falsche Richtung geführt hatte. Mit einer stählernen, unaufhaltsamen Gewalt hatte es sie beide schließlich zu einem Punkt gezogen, wo er selbst von dem Zug hatte abspringen müssen.
    Was für eine schäbige Metapher, dachte er. Da waren ihm für seine Predigten schon bessere eingefallen.
    Auf jeden Fall war es zu weit gegangen mit Yvonne und ihm. Sie hatten so viele Gemeinsamkeiten entdeckt, so viele Ansichten geteilt … sie passten so gut zusammen. Als würden sie

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