N. P.
Nasenbluten hast? Halt den Kopf hoch, Mensch!«
»Ja.« Sui hob den Kopf, bis die Nase kerzengerade in die Luft zeigte. Ich mußte ihre wie totenstarr ins Gesicht gekrallten Finger förmlich aufbrechen, um ein Taschentuch hineinzudrücken.
»Danke«, brummte sie. Dann schwieg sie, die rotunterlaufenen Augen weiter gen Garagendecke gerichtet.
Dieses Elend, was mochte das bloß sein, fragte ich mich. Ekel mischte sich mit Sentimentalität, mir wurde warm ums Herz. Woher mochte es kommen? Leute mit Macken gab es viele, das allein war es nicht. Diese düstere Farbe, die sie ausstrahlte, diese allgegenwärtige Qual, die ihre ganze Person mit sich fortzureißen drohte.
Eine Hortensie im Regen.
»Komm mit zu mir und wasch dir das Blut ab!« sagte ich. Sie nickte. Ich hängte mir die Plastiktüte mit den Kopien über die Schulter, nahm Sui, die immer noch die Nase in die Luft hielt, bei der Hand und zog sie hinter mir her. Mein Schirm war bei dem Sturz kaputtgegangen. Es nieselte nur noch.
War sie mir gefolgt? Seit wann?
Ich wagte nicht zu fragen.
Ich ließ sie ins Zimmer und machte das Licht an. Sie stand wie angewurzelt da.
»Jetzt geh dich schon waschen!« sagte ich und gab ihr ein Handtuch. Entschlossen ließ Sui kaltes Wasser ins Waschbecken ein und wusch sich das Gesicht. Als sie mit wacher, frischer Miene wieder auftauchte, wurde ich irgendwie nervös.
»Gibst du Saki auch eine Kopie?«
Ihr Pony war naß, wie nach dem Schwimmen.
»Hab ich vor, ja.«
»Ach, die soll endlich aufhören …«, sagte sie kalt.
»Ich weiß nicht, irgendwie werd ich in letzter Zeit das Gefühl nicht los, Anlaufstelle für eure Gemütszustände zu sein«, sagte ich. Alle, alle kamen schließlich bei mir vorbei!
»Mal abgesehen davon, ob mir das gefällt oder nicht, es ist halt ein komisches Gefühl.«
»Aber es macht doch auch Spaß, oder? Ein seltsamer Schauplatz, auf dem wir uns die ganze Zeit amüsieren!«
»Die Welt dieser Erzählungen?«
»Ja«, sagte Sui und lachte. »Dieser Grusel-Touch, aber zugleich diese Tiefe, daß einem der Kopf schmerzt, diese Romantik mit einem Schuß Eskapismus. Für Infizierte ist Sakis Ansatz vielleicht letztlich der vernünftigste: objektivieren und studieren.«
»Du scheinst ja eher praktisch veranlagt zu sein«, lachte ich.
»Und ob!« sagte Sui. »Aber momentan weiß ich wirklich nicht, wie es weitergehen soll, was ich ändern müßte.«
Manchmal, wenn ich nicht gut drauf bin, denk ich: Wenn Vater und Mutter sich nicht hätten scheiden lassen, wenn ich nicht so lange alleine gelebt hätte, wenn mir damals nicht die Augen über die Sprache aufgegangen wären, wenn ich mich nicht in Shōji verliebt hätte … Wenn mich diese ganzen Dinge nicht geprägt hätten, wäre ich dann nicht vielleicht viel eigentlicher ICH, freier? – Wie gesagt, nur wenn ich nicht gut drauf bin.
»Ein Leben, das nicht Fiktion ist, gibt es das …?« sagte Sui. Ich schwieg und goß Kaffee auf.
Sui nahm die Tasse, die ich ihr brachte, und sagte: »In Wahrheit hast du dich ja schon längst von Shōji und allem gelöst und beobachtest uns, wie Ameisen, als Studienobjekt über die großen Ferien sozusagen.« Sie sagte das in ganz normalem Ton, so nebenbei, und schlürfte ihren Kaffee.
»Woher weißt du das?« scherzte ich. Da grinste sie mich an, und ich fühlte mich ertappt: Aus Spaß war Wahrheit geworden.
Z umersten Mal besuchte ich Saki und Otohiko zu Hause, in Sakis Wohnung. Da ich Sui die Kopie gegeben hatte, mußte ich für Saki sowieso eine neue machen und entschloß mich, sie gleich vorbeizubringen. Es war schon ein erhebendes Gefühl, unter blauem Himmel ein so wertvolles Geschenk zu machen, einfach so.
Ich traf Saki zwar täglich an der Uni, aber ich wußte nicht, wie sie wohnte, und da malte ich mir verschiedenes aus.
Entweder eine niedliche kleine Wohnung im Country-Stil oder ein karges Blueszimmer, eins von beidem mußte es sein, überlegte ich auf dem Weg. Ich dachte tatsächlich ernsthaft darüber nach, obwohl ich es doch bald schon selbst sehen würde. Anhand des komplizierten Stadtplans arbeitete ich mich durch die glühend heißen Straßen vor.
Ich bog um die letzte Ecke, und da lag direkt vor mir das Appartementhaus in westlichem Stil, pfefferminzgrün gestrichen, mit kleinem Innenhof. Es paßte haargenau zu Saki. Das Tor war von Efeu umrankt. Doch irgendwie wirkte das Haus dunkel und rostig, wie ein Versteck.
Ich ging die Außentreppe hoch und klopfte an die Tür mit der
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