N. P.
du?« sagte ich.
»Das war schon okay, ja. Aber es kommt ganz aufs Timing an. Bei einem vernünftigen Anlaß würde ich ihr die Erzählung schon geben. Doch wenn ich dran denke, daß sie sich womöglich freut, wenn sie’s liest, könnt ich in die Luft gehen.«
»Ja, ich glaube, das verstehe ich.«
»Also, wenn ich dran denke, daß Saki ein Buch draus macht, so mit Kommentar des Herausgebers, Anhang und allem Drum und Dran, dann wär das zu doof. Bin ich jetzt gemein?«
»Nee, ist vielleicht ganz normal.« Das meinte ich wirklich.
»Auf welcher Seite stehst du eigentlich?« fragte Sui verwundert.
»Auf keiner.«
»Ich wußte, daß du das sagen würdest.«
»Dann hättest du ja nicht zu fragen brauchen.«
»Du bist vielleicht ’n verrücktes Weib!«
Von dieser Frau als »verrücktes Weib« bezeichnet zu werden, empfand ich als absolute Ehre. Ich wurde richtig glücklich und mußte lachen.
»Übrigens, darf ich was fragen? Hast du diese Geschichte direkt von deinem Vater bekommen?«
»Ja, er hat sie in meinem Zimmer geschrieben, dort liegenlassen, ist gegangen und gestorben.«
»Dann … ganz schön unheimlich jetzt, nicht?«
»Und auch noch Handschrift! Aber damals war ich ja noch ein halbes Kind, da war mir das gar nicht so bewußt. Ist mir nicht mal im Traum eingefallen, daß ich das Ding so lange, bis ich so alt geworden bin, behalten könnte.«
»Hmh …« Ich dachte nach. Komische Geschichte. Exotischer als exotisch – aus der fünften Dimension.
»Aber davon abgesehen, ich hab was, von dem ich schon lange denke, daß ich es dir geben sollte. Mein Entschluß steht fest: Ich gebe es dir jetzt«, sagte Sui.
»Um Himmels willen, was denn? Jetzt kommt doch nicht etwa die hundertste oder hunderterste Erzählung?« lachte ich.
»Ich habe es auch schon ganz lange. Du warst ja nicht auf Shōjis Beerdigung, stimmts«, sagte Sui, ging ins Zimmer nebenan und holte ein kleines Holzkistchen aus dem Wandschrank.
»Was ist denn das, ein Stoßzahn oder so was?« Manchmal sag ich auch komische Sachen.
»Warm!« sagte sie. »Machs doch auf!«
Das Kistchen war leicht. Vorsichtig öffnete ich es. Auf einem baumwollenen Tuch lag ein bruchstückhaftes, weißes Etwas – ein Weiß, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine historische Farbe – ein gelblicher Schimmer lag darüber … auch die Farbe von Suis Haus war dabei. Mir war sie nur zu gut bekannt, diese Farbe. Mein Bewußtsein schien sich aufzulösen.
»Ist das etwa … ein Knochen?« sagte ich. »Das ist nicht wahr …«
»Doch, von Shōji.« Sui lächelte verlegen. Ist dies eine Situation, in der man sich geniert, fragte ich mich. Sie war aber auch voller Stolz.
»Nach der Einäscherung, während der Zeremonie, als wir seine sterblichen Überreste von der Bahre in die Urne füllten, hab ich ihn einfach geklaut. Ofenfrisch und knusprig. Ich war vielleicht aufgeregt!« Ihre Wangen waren gerötet, und sie strahlte, als sie das sagte.
Ich hatte mich zwar noch nicht von dem Schock erholt, aber um mir Mut zuzusprechen, versuchte ichs mal mit der Bemerkung: »Das ist also von ihm übriggeblieben.«
»Mir fällt vielleicht ein Stein vom Herzen!« sagte Sui.
Mir zwar überhaupt nicht, aber ich war irgendwie gerührt. Wegen ihrer freundlichen Leidenschaft, die kaum zu begreifen war, oder wegen Shōjis Knochen an sich – ich wußte es nicht.
»Vielen Dank«, sagte ich. Das Gewicht des Kistchens aus unlackiertem Holz in meiner Hand. Ich tat, als ob nichts wäre, aber alle meine Nerven schienen dort zusammenzulaufen. Ein Gefühl, wie wenn einem die Hand eingeschlafen ist.
»Wo jobbst du eigentlich?«
»In einer Bar.«
»Mit Karaoke {5} und so? Singst du auch?«
»Ja, gelegentlich.«
»Erstaunlich«, sagte ich. »Übrigens, deine Wohnung ist ja ziemlich nichtssagend.«
»Ich komme so besser zur Ruhe.« Sui lachte. Es war Abend geworden. Durch das Fenster fiel Straßenlampenlicht in diese Wohnung, die zweifellos einem Sarg glich.
»Bleib doch noch ein bißchen hier. Es ist schön mit dir zusammen«, sagte sie.
Ich spürte die Schwere eines Herzens, das sich an meines hängte.
»Gut«, antwortete ich und dachte: ›Ein Knochen!‹ – Mein Innenleben hinkte noch hinterher.
A n jenem Abend hatte ich mich nach langer Zeit wieder mit Freunden aus der Schulzeit getroffen. Wir hatten viel getrunken. Ich war ziemlich besoffen. Nicht so viel, daß ich nicht mehr hätte gehen können. Es reichte aber – die Welt ringsum funkelte
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