N. P.
schon so komisch.
Ich ging also gerade nach Hause, als ich Otohiko über den Weg lief. Das war nichts Außergewöhnliches in diesem kleinen Viertel, man sah sich des öfteren, zum Beispiel, wenn man in irgendwas am Zeitschriftenstand blätterte. Man grüßte sich kurz – aber dabei war es bisher immer geblieben, jeder ging seiner Wege.
Doch an jenem Abend war ich ja etwas benebelt und hatte überhaupt nicht erkannt, daß es Otohiko war, der mir da entgegenkam.
»He, du!« rief er mich laut an, als wir auf gleicher Höhe waren.
»Ja, wer ist denn da? Otohiko!«
»Wohl besoffen, was?« sagte er.
»Komm, wir trinken nen Tee zusammen.«
»Kazami! Um zwei Uhr nachts?« Otohiko lachte.
»Wir gehen zu Mister Donut {6} «,schlug ich vor, »die haben noch auf.«
»Ist zu weit. Ich zieh uns was am Automaten, und wir trinken hier auf der Straße, gut?«
»Bah, wie stillos!«
»Ist doch okay. Kann man schließlich nur im Sommer.«
»Da haste auch wieder recht!« sagte ich. Ja, der Sommer war schon halb vorbei, in ein paar Wochen würde er langsam ausklingen. Wie traurig!
Otohiko zog an einem Getränkeautomaten an der Straßenecke zwei Tee. Rappeldipolter. Erstaunlich groß, so eine Dose.
Zum Trinken setzten wir uns einfach vor das heruntergelassene Gitter eines Ladens auf der Hauptstraße. Die Autos rasten mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit an uns vorbei. Bei Lastern spürten wir jedesmal ein Beben.
»Toll, so auf der Straße zu sitzen. Man hat das Gefühl, absolut dabeizusein«, sagte ich.
»Ja, man spürt die Nacht!«
»Leute, die auf der Straße leben, haben die ganze Zeit diese Perspektive.«
»Ja, aber wenn es immer so ist, wirds doch normal, oder?«
Die Welt bekam merkwürdig scharfe Konturen, wenn man weit weg vom Alltagstrott plötzlich innehielt und die Autos, manchmal auch Leute, an sich vorbeiziehen ließ. Die sich ins Endlose erstreckende Straßenbeleuchtung wirkte höher, näher am Himmel als sonst, das Scheinwerferlicht bunter, das Quietschen von Bremsen, entferntes Hundebellen, die vielen Geräusche der Straße, Stimmen, Schritte.
Auch der Wind, der durch die Gitter pfeift.
Lauwarme Luft, der Asphalt, dem man noch die Hitze des Tages anfühlt. Der ferne Geruch des Sommers.
»Na, wie fühlst du dich?« fragte er.
»Schleeecht!« sagte ich, und er nahm meine Hand und drückte fest zu.
»Aua!«
»So schlecht ungefähr?«
»Du bist ein Kind!« sagte ich. »Wie sehr liebst du Sui?«
»Hm«, überlegte er und nahm einen Schluck aus seiner Dose. »Für mich haben alle Frauen, die hier vorübergehen, ihr Gesicht. So sehr ungefähr … Diese Zeile kommt schon in irgendeinem Song vor, oder? Ich hab also wahrscheinlich plagiiert.«
»Trotzdem, ein schönes Bild«, sagte ich.
»Aber wir können machen, was wir wollen, es kann nicht gutgehen.«
»Wird schon werden.«
»Ich hab Angst.«
Die Zeit blieb stehen.
Gott mußte seinen milden Blick für einen winzigen Moment genau auf uns gerichtet haben. Dieser ewige Friede. Das Tal der Nacht.
Sui glich der Nacht.
Am Tag findet man nichts Besonderes an ihr, man hat nur so eine nebulöse Vorstellung. Sobald aber einmal die Finsternis angebrochen ist, spürt man ihre überwältigende Reinheit und kann ihr nicht widerstehen.
»Ich hab drüben einen Saufbruder, ein guter Segelfreund von mir, der einige Jährchen älter ist. Als wir in Boston waren, ist er uns einmal besuchen gekommen, und wir sind zu dritt einen trinken gegangen. Für die erste Begegnung mit einem Fremden war Sui ausnahmsweise ziemlich locker und spielte die Rolle meiner züchtigen Geliebten gut. In einer solchen Situation muß doch einfach für einen Dritten alles, na sagen wir, harmonisch gelöst aussehen, muß die Illusion einer gut funktionierenden Beziehung entstehen, oder?«
»Ja, verstehe.« Nur äußerst fragile Liebe gibt dieses Bild harmonischer Gelöstheit ab, wollte ich sagen, verschwieg es aber. Huuiii, fegte der Nachtwind über uns hinweg. Mit all den hohen Gebäuden, die uns umgaben, wirkte die Welt ringsum verschlossen – es war, als betrachtete man sie aus der Fischperspektive.
»Aber Männer des Meeres lassen sich nicht täuschen. Die sind seltsam scharfsinnig, zeichnen sich dadurch aus, daß sie die Dinge so sehen, wie sie sind. – Also, Sui wurde müde und ging früher nach Hause. ›Bist mit ner gefährlichen Frau zusammen‹, sagte er, als sie weg war. ›Die Sorte gabs früher oft im Meer. Haben mich hin und wieder auf den Meeresgrund gelockt, wenn ich mutlos
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