N. P.
Gras unter unseren Händen atmete.
»Tut mir wirklich leid«, entschuldigte sich Sui noch einmal, sah mich an und lachte. Ein Lachen wie das von indischen Kindern – klar, strahlend und voller Energie.
N ach langer Zeit traf ich mich wieder mal mit Mutter. Ungefähr zwei Monate hatten wir uns nicht gesehen.
Sie hatte mich plötzlich angerufen: »Wollen wir nicht morgen zusammen zu Mittag essen?« Nach meiner Schwester und mir hatte Mutter keine Kinder mehr bekommen. Ihr Mann (anders kann ich ihn nicht nennen, wir haben nie zusammen gewohnt) war Herausgeber einer Zeitschrift. Es war seine erste Ehe, eigene Kinder hatte er daher nicht. Ich hatte es seinerzeit abgelehnt, mit ihnen zusammenzuziehen. Manchmal bereute ich das, und manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Ich bereute es, wenn ich wieder mal das Gefühl hatte, daß man mit dem Auf-eigenen-Füßen-Stehen am besten wartet, bis es nicht mehr anders geht. Das schlechte Gewissen bekam ich immer bei solchen Anrufen, denen man Einsamkeit anhörte.
Es war Mittagszeit und das Restaurant überfüllt. Ich war gerannt, weil ich mich zehn Minuten verspätet hatte. Mutter saß allein am Tisch und trank Tee. Sie trug einen dunkelblauen Hosenanzug, war perfekt geschminkt und blickte aus dem Fenster. Irgendwie sah sie nach Witwe aus. Diesen Eindruck hatte sie aber schon immer gemacht.
»Hallo, Mutter«, sprach ich sie an. Sie drehte sich zu mir um und lachte.
»Du hast ein bißchen abgenommen, oder?« fragte ich während des Essens.
»Ja, wegen der Hitze konnte ich nicht so viel essen.«
»Hast du viel zu tun zur Zeit?«
»Ja, gleich hab ich wieder eine Vorbesprechung.« Mutter lachte. Im Vergleich zu damals, als wir noch zusammenlebten, war sie eindeutig alt geworden. Da ich für gewöhnlich in einem Gefühl von Zeitlosigkeit lebe, kommt es mir jedesmal, wenn ich Mutter sehe, so vor, als sei ich – schwupp! – mit der Zeitmaschine in die ordnungsgemäße Zukunft gebeamt worden. Mutter macht mir sozusagen erst bewußt, daß die Zeit vergeht.
»Dolmetschst du gar nicht mehr?«
»Doch, hin und wieder bekomme ich dringende Anfragen. Aber in meinem Alter ist es schon lästig. Wenn es sich nicht gerade um jemanden handelt, dem ich verpflichtet bin, lehne ich ab.«
»Du übersetzt also?«
»Ja, hauptsächlich.«
»Du machst das schon ganz lange, nicht?«
»Wieso?«
»Och, weil ich zur Zeit auch ziemlich viele Übersetzungen mache, so nebenbei. Da hab ich halt darüber nachgedacht …«
Da meinte sie: »Wenn du mich fragst, eignest du dich eher nicht zum Übersetzen.«
»Ja, ich weiß … aber warum? Weil ich nicht sorgfältig genug bin?«
»Wie soll ich sagen, du bist zu weich, nein, zu freundlich. Du läßt dich zu sehr ein auf den Text«, sagte Mutter.
Aufhören! dachte ich nur. Sie hatte damit genau den Punkt getroffen.
»Man kann diese Arbeit so kühl und gelassen angehen, wie man will, Gefühle übertragen sich nun mal, und deshalb bezahlt man mit den Nerven, wenn man so ist wie du.«
»Glaubst du?«
»Ich denke, ja. Shōji – das war auch so ein Fall, er eignete sich auch nicht dazu.«
»Daß du dich so gut daran erinnerst«, meinte ich, und Mutter nickte, als wollte sie sagen: Kein Wunder!
»Es ist schon schwierig, sich in ein Buch hineinzufühlen, um es zu übersetzen. Davon bin ich überzeugt. Wenn einem der Text nicht gefällt, ist es sogar die reinste Qual!«
Mutter lachte. »Ein bißchen kann ich Shōji sogar verstehen. Ich mach das jetzt schon mehr als zehn Jahre, aber immer noch kommen Zeiten, wo ich es einfach leid bin. Und das Übersetzen leid sein ist eine Sache für sich, das kann ich dir sagen!«
An dieser Stelle wurde unser Gespräch unterbrochen, weil der Kellner Dessert und Espresso brachte. Ich war über Mutters Gedanken und Ansichten nicht mehr auf dem laufenden, und so erschien mir alles merkwürdig neu, was sie gesagt hatte, auch die Bemerkungen über ihre Arbeit.
»Man folgt ja sozusagen dem Text eines fremden Menschen, als wären es die eigenen Gedanken. Viele Stunden am Tag, als wäre man selbst der Autor. Man versucht, mit fremden Gedankengängen Schritt zu halten. Das ist eine ganz seltsame Sache, immer weiter einzudringen in den Text, bis keine Disharmonie mehr besteht. Man verliert langsam aus den Augen, wo die eigenen Gedanken enden und die des anderen beginnen, bis sich die fremden Gedanken sogar in den eigenen Alltag mischen. Hat der Autor, den man übersetzt, starke Überzeugungskraft,
Weitere Kostenlose Bücher