Nach all diesen Jahren
darstellte.
Und da er diese Hemmschwelle überwunden hatte, dachte er vielleicht wirklich um – womöglich verliebte er sich sogar!
Bei diesem Gedanken überfiel Sarah geradezu Panik. Es war schön und gut, hehre, moralische Standpunkte zu vertreten: Dass es nicht richtig sei, nur wegen eines Kindes zu heiraten. Sie durfte seinen Antrag ablehnen. Aber wenn er nun tatsächlich eine andere zur Frau nahm?
So ausgeschlossen war das nicht. Die Tatsache, dass er ein Kind hatte, stellte schließlich sein gesamtes altes Leben infrage – selbst wenn ihm das nicht bewusst sein sollte. Vielleicht dachte er schon darüber nach, ob es nicht am sinnvollsten wäre, eine ‚Ersatzmutter‘ zu besorgen?
Sarah wurde es fast schlecht bei dem Gedanken, Oliver mit einer Stiefmutter konfrontiert zu sehen. Aber natürlich wäre es eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung.
Außerdem fände Raoul es auf Dauer sicher viel zu kompliziert, seine Rendezvous ständig mit den Besuchszeiten bei seinem Sohn zu koordinieren. Und ganz sicher würde er nicht wollen, dass Oliver seinen Lebenswandel mitbekam! So gut kannte Sarah Raoul inzwischen. Er war zu gewaltigen Opfern bereit, wenn es um seinen Sohn ging. Nie im Leben würde er in den Augen seines Sohnes als Casanova gelten wollen.
Diese Gedanken gingen ihr ununterbrochen durch den Kopf, während sie sich in ihrem neuen Zuhause einrichtete. Zu renovieren gab es nichts – alles war mehr als perfekt –, aber die Kleinigkeiten, die eine Wohnung erst zu einem gemütlichen Heim machten, fehlten. Sarah packte die Familienfotos aus und dekorierte den Kaminsims damit. Die Kühlschranktür wurde zur Bildergalerie für Olivers Malkünste, und die farbenfrohen Decken, die ihr ihre Mutter geschenkt hatte, verwandelten das Sofa im Wintergarten in einen gemütlichen Rückzugsort, an dem sie Olivers Lieblingsfilme sehen konnten. Sie erkundeten die Nachbarschaft und die umliegenden Dörfer, um zu wissen, wo Arzt, Apotheke und Lebensmittelladen lagen.
Eigentlich war alles so, wie es sein sollte. Nur konnte sie das Gedankenkarussell in ihrem Kopf nicht abschalten. Sie verlor sich in Fantasien, und oft fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren.
Raoul benahm sich weiterhin wie der perfekte Gentleman. Sarah fragte sich argwöhnisch, wie er wohl seine Abende verbrachte, wenn er nicht gerade Papa spielte.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich an seine täglichen Besuche gewöhnt hatte und daran, dass er sie anrief, wenn er nicht kommen konnte – und auch erklärte, warum nicht. Den einzigen Versuch, ihn auszuhorchen, schmetterte er mit der Bemerkung ab: Das sei nun wirklich nicht ihre Angelegenheit.
Zwei Tage vor dem Wochenende, an dem sie zu Sarahs Eltern fahren wollten, lieferte Raoul Oliver nach einem Kinobesuch mit den Worten ab, nun sei es Zeit, sich zusammenzusetzen.
„Ich warte in der Küche auf dich“, verkündete er. Er hatte ihr eine Zweiwochenfrist gegeben – und sie war abgelaufen. Er war es nicht gewohnt zu warten – vor allem, wenn die Lösung eines Problems eigentlich keinen Aufschub duldete –, aber in diesem Fall hatte er es für ratsam gehalten, eine andere Taktik einzuschlagen.
Er wusste, dass Sarah sich immer noch zu ihm hingezogen fühlte, trotzdem hatte sie sich geweigert, seine Geliebte zu werden. Und, wie er sie einschätzte, nicht aus Berechnung. Er war anscheinend nicht mehr die Liebe ihres Lebens. Dafür hatte er sie vor fünf Jahren offensichtlich zu sehr verletzt. Dann noch die schwierige Situation, alleinstehende Mutter zu sein, und aus dem naiven jungen Mädchen war eine Frau geworden, die wusste, was sie wollte.
Raoul konnte sie nicht zu einer Ehe zwingen. Aber seine Strategie der letzten zwei Wochen – ihr vorzuführen, wie es sein würde, wenn sie ihn nicht heiratete –, hatte ihn selbst an die Grenze dessen gebracht, was er ertragen konnte.
Eine halbe Stunde später kam Sarah in die Küche. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt locker sitzende Hüftjeans und ein kurzes T-Shirt, das einen Blick auf ihren flachen Bauch freigab, als sie sich reckte, um Tassen aus dem Schrank zu holen.
„Also?“, fragte sie betont gelassen. Raoul setzte sich an die Stirnseite des Tischs, der im Unterschied zu dem in ihrer vorherigen Wohnung sechs Leuten Platz bot, und sie setzte sich ihm gegenüber. „Du möchtest mit mir reden? Ich kann dir gar nicht sagen, wie toll dieses Haus ist. Aber das habe ich dir ja schon tausendmal versichert. Und es gibt so
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