Nach alter Sitte
essen. Abgesehen davon hatte er ein reichhaltiges Frühstück genossen. Vielleicht zu fett, aber füllend. Lorenz versuchte sich einzureden, dass er deswegen noch keinen Appetit entwickelt hatte. Wieder wanderte sein Blick zu dem Gesicht der heiligen Katharina. Konnte ein Maler, der sein Handwerk verstand, die Züge einer jungen Frau auf ein späteres Lebensalter ohne Vorlage übertragen? Oder war doch das Undenkbare geschehen? Auf dem Bild sah es so aus, als bete er seine Tochter an. Und auf eine gewisse Weise hatte der bösartige Künstler einen wahren Punkt getroffen. Wer machte sich eine solche Mühe, ihn so zu treffen, und warum? Der Alte war überzeugt, dass dieses Bild nur der Vorbote schlimmer Ereignisse war. Er wollte gerade Kommissar Wollbrand eine entsprechende Schlussfolgerung formulieren lassen, als ein Klingelton seines Computers anzeigte, dass er eine elektronische Post erhalten hatte. Er ging zum Schreibtisch und stieß die Computermaus an, um den Bildschirm zu aktivieren. Rita hatte ihm genau erklärt, wie er das neue Email-Programm sehr leicht bedienen konnte. Sie hatte es ihm außerdem optimal eingestellt.
Die neue Nachricht war bereits markiert und in einem Vorschaufenster sichtbar. Wie immer las Lorenz zuerst den Namen des Absenders. Dabei erstarrte er. Diese Email hatte ihm jemand gesendet, der sich Ambiorix nannte. Tausend Bilder schossen dem Alten durch den Kopf, und er musste sich zwingen, diese zunächst aus seinem Hirn zu verbannen und den Text der Nachricht zu lesen. Dieser war ebenso kurz wie denkwürdig:
Ich war ein Großer meines Volkes, doch musst ich mich dem Größern beugen. So ging es deiner Tochter auch, so wird es bald auch dir ergehn. Ambiorix .
Lorenz musste sich setzen, seine Beine versagten ihm den Dienst. Er rang nach Luft und versuchte, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Kommissar Wollbrand musste ihm jetzt mit kühlem Kopf zu Hilfe eilen. Deshalb murmelte er: »Wenn es jemand darauf angelegt hatte, den Alten fertigzumachen, dann war er gut darin. Das musste der in Ehren ergraute Ermittler leider zugeben.«
Das half. Er konzentrierte sich darauf, regelmäßig und tief zu atmen. Lorenz öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch, die er nicht mehr angefasst hatte, seit dieses Möbelstück hier aufgebaut worden war. Er entnahm der Lade einen Schuhkarton und stellte ihn auf den Tisch. Er brauchte noch einige Atemzüge, bis er den Karton öffnen konnte. Zuoberst lag ein altes, gelbstichiges Foto. Es zeigte Gerda im Alter von zehn Jahren. Das Mädchen wies auf einen hohen Sandsteinfelsen, der eine von Menschenhand geformte Aushöhlung aufwies. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Alten, als er an die Ernsthaftigkeit und den Eifer dachte, mit dem die Kleine ihn auf die Exkursionen in die Frühgeschichte der Eifel begleitet hatte. Wehranlagen der Kimbern, Teutonen und Eburonen hatten sie gesucht, Reste von keltischen Kultstätten und römischen Lagern. Auf den Spuren des Eburonenkönigs Ambiorix, der Julius Caesar die größte Niederlage seiner militärischen Laufbahn beigebracht hatte, die größte Niederlage eines römischen Heeres überhaupt auf germanischem Boden, sechzig Jahre vor der Varusschlacht des Arminius. Gerda hatte darauf bestanden, als erste Fremdsprache Latein zu lernen, um Caesars Commentarii de Bello Gallico möglichst rasch im Original lesen zu können. Später hatte sie Lorenz versprochen, im Rahmen ihrer Abschlussarbeit das Schlachtfeld des Ambiorix im Rurtal zu lokalisieren und damit seinen eigenen Traum zu verwirklichen helfen. Doch dazu war es nicht mehr gekommen. Mit Gerdas Verschwinden hatte Lorenz die Akte Ambiorix geschlossen. Nun entnahm er mit zitternden Händen dem alten Schuhkarton nacheinander diverse handgefertigte Karten, Notizzettel und Fotos, Zeitungsausschnitte mit Artikeln zu dem Thema und einen Aufsatz des Blenser Pfarrers Andreas Pohl, der sich als Heimathistoriker besonders um die keltisch-römische Geschichte der Nordeifel verdient gemacht hatte. Lorenz blätterte in der Schrift. Bei einem Textabschnitt stieß er auf einen handschriftlich gekritzelten Vermerk, in dem Gerda dem alten Pfarrer einen Fehlschluss nachwies. An dieser Stelle konnte der Alte nicht weiterlesen, Tränen verschleierten seinen Blick. Er legte das Heft beiseite und überließ sich seiner Trauer.
Später, er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, versuchte er sich zu erinnern, wie lange er nicht mehr laut geweint hatte. Selbst beim Tod
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