Nach alter Sitte
Ungewissheit zurückzulassen. Dazu gab es keinerlei Veranlassung. Nein, meine liebe Bärbel, Gerda ist tot.«
»Und wenn nicht?« Bärbel sprach sehr leise. »Was, wenn sie immer noch eingesperrt irgendwo in einem Keller sitzt? Es gibt doch diese schrecklichen Fälle.«
Lorenz antwortete darauf nicht. Bärbel biss sich auf die Unterlippe, sie hatte das Gefühl, dass sie diesen Gedanken nicht hätte aussprechen dürfen. Sonst war es eher Lorenz, der ihr mit seinem Hang zum Kriminellen oft Schlimmes zumutete. Nun sagte sie selbst Dinge, die ihr unfassbar widerlich erschienen.
Lorenz sagte: »Erzähl mir mehr über das Bild. Was war der Lochner für ein Maler? Und was bedeutet das Bild? Du weißt, ich kenne mich in der Kunst nicht so gut aus.«
Bärbel war Lorenz dankbar für diese Frage, konnte sie doch so von ihrer beider Bestürzung ablenken. »Stephan Lochner war der bedeutendste Künstler im Köln des fünfzehnten Jahrhunderts. Als Albrecht Dürer später die Domstadt besuchte, gab dieser sogar Geld dafür, Bilder des alten Meisters sehen zu dürfen. Lochner malte noch nach der Alten Schule, meist auf Holz, und ganz in der sakralen Themenwelt des späten Mittelalters, griff aber bereits die neuen Einflüsse besonders der holländischen Maler auf. Dieses Bild hängt in der Alten Pinakothek in München. Es zeigt drei Märtyrer. Die heilige Katharina wurde wegen ihres Glaubens gerädert und, als das Rad in der Folter zerbrach, mit dem Schwert enthauptet. Daher wird sie traditionell mit Schwert und Radspeiche dargestellt. Daneben steht der heilige Hubertus mit dem Hirschsymbol, dargestellt als Bischof von Lüttich, und ganz rechts, wie ich zunächst nicht mehr wusste, der heilige Quirinus. Er war ein römischer Soldat, der zum christlichen Glauben übertrat und dafür hingerichtet wurde. Er ist der Stadtpatron von Neuss, wo seine Reliquien hingelangten. Sein Wappen sind neun goldene Kugeln auf rotem Grund, wie du hier auf dem Bild auch sehen kannst. Und unten, symbolisch viel kleiner als die Heiligen gemalt, der Stifter des Bildes, der wohl ein Kirchenmann war. Damals wurden die Stifter oft in das von ihnen finanzierte Kunstwerk mit eingebracht, hier als frommer Mann, der die Heiligen anbetet.«
»Und wie lebte dieser Meister Lochner?«
»Darüber ist angesichts der langen Zeit nicht sehr viel bekannt. Sicher weiß man allerdings, dass er Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts als wohlhabender und angesehener Bürger Kölns während einer Pestepidemie starb.«
Lorenz nickte schweigend. Beide hingen eine Zeit lang ihren Gedanken nach. Dann sagte Bärbel: »Du musst Rita alles erzählen. Das ist eine Sache für die Polizei.«
»Auf keinen Fall!« Lorenz’ Stimme war lauter, als er es gewollt hatte. Aber er schüttelte bekräftigend den Kopf. »Keine Polizei.«
»Aber wenn jemand hier helfen kann, dann Rita. Sie ist nicht nur eine gute Kriminalistin, sondern auch deine Enkeltochter.«
»Sie soll nichts von der Sache erfahren«, brummte Lorenz.
Bärbel wartete, ob er seine Meinung irgendwie begründen würde, doch er tat dies nicht. Bärbel wollte ihm vorwerfen, dass er in diesem Punkt völlig irrational und unlogisch vorging, doch sie behielt dies für sich. Vermutlich wusste der Alte dies selbst und würde bald zur Vernunft kommen. Bärbel nahm sich jedoch vor, das Bild genau untersuchen zu lassen. Sie sagte: »Nun, wie du willst. Hoffentlich änderst du deine Meinung in diesem Punkt noch. Ich werde das Bild mit nach Düsseldorf nehmen, in mein früheres Institut. Dort stehen modernste Mittel zur Verfügung, um die Maltechnik und die verwendeten Materialien genau zu untersuchen. So bringen wir vielleicht auch ohne Polizei ein wenig mehr Licht in diese Sache.«
»Mach das«, sagte Lorenz und starrte gedankenverloren vor sich hin.
Bärbel wartete noch eine Weile vergeblich, dass er etwas sagte, dann stand sie auf. »Gut, dann werde ich mal gehen. Ich habe in meinem Appartement geeignetes Material, um das Bild einzupacken. Ich komme später noch mal, um es mitzunehmen.«
Lorenz nickte stumm. Sie lächelte ihm unsicher zu, strich kurz, aber liebevoll mit der Hand über seine Schulter und ließ ihn dann allein. Als die Tür ins Schloss gefallen war, versank der Alte in eine bleierne Starre. Er vermochte sich nicht zu bewegen, seine Gedanken kreisten um Gerda und ihr Schicksal. Sein Magen zog sich zusammen und erinnerte ihn daran, dass er das Mittagessen hatte verstreichen lassen. Doch er wollte, er konnte nichts
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