Nach alter Sitte
fragte er leise. »Tut es sehr weh?« Wieder krampfte sein Körper sich unter einer Welle des Schmerzes zusammen. Doch er ertrug es, weil er wusste, dass es nur das Signal eines kranken Körpers war. Er stellte sich vor, wie viel bohrender eine Pein sein musste, die sich über viele Jahre in die Seele gefressen hatte und gegen die es keine Tabletten gab. Der Mann presste die Hände an seinen pochenden Schädel, bis der Schmerz abgeebbt war. Sein trotziges Lachen klang heiser.
Lorenz sah vom Bildschirm auf. Er ließ langsam seinen Kopf kreisen und spürte, wie steif sein Nacken geworden war. Er ging zum Fenster und öffnete es. Eine seltsam klebrige Luft strömte herein. Aufgeladen und staubig. Zeit für ein Gewitter, dachte der Alte. Als hätte die Natur seine Gedanken erraten, zuckte ein Blitz durch die Nacht, der den Himmel in ein unwirkliches Licht tauchte. Lorenz wartete auf den Donner, der jedoch nicht kam. Der nächste Blitz folgte, so heftig, dass es fast schien, als sprenge er das Firmament. Eine unheimliche Stille lag über dem Rurtal. Warum mussten die warmen Sommertage immer in eine Schwüle münden, die nach kühlem Regen verlangte? Ob das vor zweitausend Jahren auch schon so gewesen war?
Lorenz hatte sich die Eifel, in die römische Legionen vordrangen, immer als dunklen nordischen Urwald mit kaltem Regen und Wind vorgestellt. Schwüle Sommernächte und zuckende Blitze ohne Donner waren in seinen Fantasien nicht vorgekommen. Auch keine müden alten Männer, die den Schlaf herbeisehnten und nicht finden konnten, keine staubige Luft, die nach Regen lechzte. Was hatten die Krieger aus dem fernen Italien hier zu finden gehofft? Ruhm auf dem Schlachtfeld? Reichtum? Oder nur gerade so viel Sold, um sich – wenn man den Dienst in der Armee überlebt hatte – irgendwo ein Stück Land und eine brave Frau leisten zu können? Und die Ureinwohner? Wofür hatte Ambiorix gekämpft? Für Ehre und Ansehen? Für die Fürstenmacht? Oder für die Freiheit seines Volkes? Wollte er sich unsterblichen Ruhm auf dem Schlachtfeld verdienen oder hatte ihn der Wunsch angetrieben, seine Kinder in Frieden und Freiheit, nach eigener Sitte und Kultur, aufwachsen zu sehen?
Lorenz überlegte, wie viel von seinem eigenen Lebenslauf das Ergebnis von Visionen und Plänen war. War er nicht eigentlich immer mehr ein Getriebener, vielleicht sogar ein Gestrandeter gewesen? Und wer konnte schon sagen, ob die Figuren der Geschichte, denen man eindrucksvolle Standbilder errichtete wie das des Ambiorix in Tongeren, ob diese nicht doch auch nur Menschen waren, denen ihr Leben einfach widerfuhr? Lorenz hatte in den letzten Stunden nur einen Bruchteil von dem gesichtet, was das Internet über den sagenumwobenen Eburonenkönig enthielt. Es waren sehr viele Artikel und Bilder gewesen, und doch hatten sie immer nur den Freiheitskämpfer in Siegerpose gezeigt, der für Marktplätze und Briefmarken taugte. Was aber war mit dem gescheiterten Ambiorix? Dem geschlagenen, verfolgten, einsamen Mann, der sich ins Vergessen flüchtete, vielleicht aus einem fernen Versteck die Ausrottung seines Volkes beobachtete? Der gebrochen im Dunkel saß und sich fürchtete, wenn Blitze nächtens am Himmel zuckten? Oder war er vielleicht unerkannt auf einem Schlachtfeld gefallen, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und mit seinen namenlosen Gefolgsleuten in einem Massengrab oder gar von Tieren entsorgt? So viele Möglichkeiten, so viele Bilder eines Mannes, die allesamt nicht zur Heldenverehrung taugten. Lorenz erinnerte sich, damals mit Gerda nach dem Schlachtfeld gesucht zu haben, auf dem ein Ureifeler den übermächtigen römischen Invasoren getrotzt hatte. Doch gab es dieses Schlachtfeld wirklich? Oder gab es in Wahrheit nur einen Ort im malerischen Rurtal, wo zehntausend unglückliche Söldner erschlagen wurden aus Gründen, die damals wie heute unverständlich waren und letztlich nichts taugten?
Wieder zuckte ein Blitz über der Nideggener Burg, und diesmal zog er ein Donnergrollen nach sich. Es hörte sich viel weiter entfernt an, als es der Blitz tatsächlich gewesen war, und rollte über die Hügel davon, verlor sich über den Hängen des Rossberges und des Odenbleuels, wo vermutlich die Legionäre des Quintus Sabinius und des Lucius Cotta unter den Wurfgeschossen der Eburonen verblutet waren.
Lorenz versuchte, die düsteren Bilder zu verscheuchen. Er ließ Kommissar Wollbrand kommentieren: »Nicht einfach, wenn man bedachte, dass der alte Ermittler nun
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