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Nach alter Sitte

Nach alter Sitte

Titel: Nach alter Sitte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Breuer
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würdigen. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die kniende Person seine Gesichtszüge trug. Doch auch wenn dies schon absonderlich genug schien, es war doch nicht das, was ihn zutiefst verstörte. Und beunruhigte. Er bemerkte das Zittern seiner Hände, das sich auf den ganzen Körper ausbreiten wollte und gegen das er nichts tun konnte. Wieder wurde sein Blick magisch von dem Gesicht der heiligen Katharina angezogen. Bleich war es und schmal. Blondes Haar umspielte in langen Locken die weißen Wangen, fiel in Wellen auf das rote Kleid mit dem goldenen Saum. Lorenz blinzelte. Das Heiligengesicht begann zu verschwimmen. Er versuchte seinen Blick zu klären, indem er die Augen weit aufriss. Doch das Bild wurde immer undeutlicher. Er spürte, wie seine Lippen zitterten. Und erst, als er durch die Nase keine Luft mehr bekam und einen salzigen Geschmack wahrnahm, wurde ihm bewusst, dass er weinte. Tränen liefen ihm in kleinen Bächen in seinen weißen Bart. Lorenz nahm ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich. Er musste sich zusammennehmen. Was war denn nur los mit ihm? War es denn so einfach, ihn dermaßen aus der Ruhe zu bringen? Er, der in fünfundsiebzig Jahren schon so viel gesehen und auch mehr als genug Trauriges erlebt hatte? Es dauerte eine Weile, bis er sich gestattete, den Namen in seinen Gedanken auszusprechen. Gerda.
    Er musste noch mehrmals tief durchatmen, bis er es über sich brachte, das Bild der heiligen Katharina nochmals anzusehen und dabei ihren wahren Namen zu denken: Gerda.
    Er riss sich von dem Bild los und ging zum Schreibtisch, wo ein Fotoalbum aufgeschlagen lag. Lange hatte er diese Seiten nicht mehr aufgeschlagen. Viel zu lange. Seine Tochter Gerda, der Sonnenschein der Familie. Sie war so lebhaft, so aufgeweckt, abenteuerlustig. Das blonde Haar kurz gestutzt, zum ständigen Verdruss ihrer Mutter, die es gerne traditionell lang gesehen hätte. Wie das der heiligen Katharina. Die Gerdas Gesichtszüge trug.
    Wieder zog es Lorenz zu dem unheimlichen Gemälde. Kein Zweifel, dieses Gesicht war das seiner verschollenen Tochter Gerda. Viele Jahre war es her, dass sie spurlos verschwunden war. Und das Schrecklichste an dem Bild war, dass es die Gesichtszüge einer Frau in mittleren Jahren zeigte. So wie Gerda jetzt vielleicht aussehen würde. Immer noch hübsch, aber gereift.
    Konnte es sein? Lorenz wies den Gedanken weit von sich. Zu erschreckend, zu verwirrend war es. Wieder schossen Tränen in seine Augen. Er lief ins Badezimmer, um das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, die brennenden Augen zu kühlen und die Hitze zu vertreiben. Sich wieder normal zu fühlen, als sei das alles gar nicht da. Es gelang nicht.
    Gerda. Sie teilte ihres Vaters Freude an der Geschichte ihrer Heimat. Und dann ging sie ausgerechnet nach Berlin, um dort Kunstgeschichte und Archäologie zu studieren. Ab und an kam sie zu Besuch. Bis sie eines Tages nicht mehr den Weg nach Hause fand. Hätte er sie am Bahnhof abholen sollen oder ihr Bruder Stephan? Lorenz war sich viele Jahre sicher gewesen, dass sein Sohn es war, der Gerda hätte abholen sollen. So war es abgemacht gewesen. Jetzt war er nicht mehr davon überzeugt, dass seine Erinnerung die richtige war. Hatte Stephan doch recht gehabt mit der Behauptung, der Vater hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, Gerda selbst in Köln abzuholen? Wer wollte das jetzt noch entscheiden nach so langer Zeit? Doch nun war Gerda wieder da. Auf diesem Bild, das so ästhetisch und harmlos daherkam und doch so voll diabolischer Tücke war.
    Stephan. War es Zufall, dass der unbekannte Maler sich ausgerechnet ein Bild des Kölner Meisters Stephan Lochner ausgesucht hatte, um ihn zu verhöhnen? Wohl kaum. Lorenz, Gerda und Stephan. Er musste Stephan anrufen. Lorenz ging zum Telefon und tippte daran herum, um die Nummer seines Sohnes zu finden. Als er sie auf dem winzigen Bildschirm sah, verließ ihn der Mut. Nein, er musste alleine sein mit sich, seinen Erinnerungen und diesem Bild. Er legte das Telefon wieder weg. Wieder nahm ihn das Bild der heiligen Katharina gefangen. War es wirklich Gerda? Er wusste doch gar nicht, wie sie heute, fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden, aussehen würde. Und der Maler konnte es auch nicht wissen. Oder etwa doch? Die möglichen Antworten wollte Lorenz sich gar nicht ausmalen, er konnte es einfach nicht.
    Und ja, es war zweifellos Gerda. Ihre hellen klugen Augen, die eng unter einer hohen Stirn standen, mit beinahe

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