Nach alter Sitte
seiner geliebten Maria, mit der er über ein halbes Jahrhundert verheiratet gewesen war, hatte er sich dies nicht gestattet. Gerda war der Grund gewesen. An dem Abend, an dem Maria und er beschlossen hatten anzunehmen, dass ihre Tochter tot war. Sie hatten dagesessen, sich an den Händen gehalten und gemeinsam geweint. Über zwei Jahrzehnte war das nun schon her. Und nun hatte ihn die Vergangenheit eingeholt. Vergangen war eben nicht vorbei.
Lorenz ballte die Fäuste, wischte sich dann die Tränen vom Gesicht und wandte sich wieder der ominösen Email und den alten Aufzeichnungen zu. Der unbekannte Absender nannte sich Ambiorix, ein Großer seines Volkes. Er musste sich einem Größeren beugen. Damit war sicher Julius Caesar gemeint, der nach der schweren Niederlage nicht ruhte, bis das Volk der Eburonen vollständig vernichtet war. Ihr Häuptling Ambiorix jedoch wurde nie gefasst oder getötet. Seine Spur verlor sich mit dem Untergang seines Volkes im Dunkel der Geschichte. Das war die Parallele zu Gerdas nie aufgeklärtem Verschwinden. Und der Unbekannte drohte, dass es auch Lorenz so ergehen würde. Eine unverhohlene Drohung also. Der Alte zweifelte nicht daran, dass der Absender der Nachricht identisch mit der Quelle des geheimnisvollen Bildes war. Doch was hatte eine antike Schlacht mit dem mittelalterlichen Maler Stephan Lochner zu tun? Und woher wusste der Unbekannte so viel über seine und Gerdas Recherchen zu Ambiorix? Von Gerda selbst? Lorenz dachte nach, mit wem er seit damals über Ambiorix und die Suche nach dem Schlachtfeld im Rurtal gesprochen hatte. Alte Arbeitskollegen? Freunde? Es war alles so lange her. Und in den letzten Jahren hatte er kein Wort mehr hierüber verloren, soweit er sich erinnern konnte. Vielleicht hatte er Bärbel, Gustav und Benny gegenüber einmal etwas erwähnt. Wenn einer seiner Freunde etwas davon jemand anderem erzählt hatte? Aber sicherlich nicht solch umfangreiches Hintergrundwissen, über das der Unbekannte offenbar verfügte. Das war unerklärlich und geradezu beängstigend, abgesehen von dem Schmerz, den das Aufbrechen der alten Wunde auslöste. Lorenz zweifelte nicht daran, dass dies beabsichtigt war.
Es drängte ihn danach, die Email zu beantworten, doch die Vernunft hielt ihn zurück. In diesem emotional aufgewühlten Zustand sollte er so etwas nicht tun, das sagte ihm seine ganze Erfahrung. Dieser Kontakt war zu heikel, um unüberlegte Schritte zu unternehmen. Später würde er vielleicht darauf zurückgreifen, doch vorerst galt es, zu innerer Ruhe und kühler Ratio zurückzufinden. Lorenz öffnete den Internetbrowser und gab »Ambiorix« in das Suchfenster ein. Google sagte ihm, dass es zu diesem Suchbegriff in 0,18 Sekunden 1.190.000 Treffer gefunden hatte. Offenbar hatte sich zu diesem Thema viel getan in den letzten Jahren. Lorenz atmete tief durch und begann, die unendlich scheinende Liste zu durchforsten. Was sich ihm da anbot, sah zwar nach einer Sisyphusarbeit aus. Doch andererseits fiel ihm nichts ein, womit er seine Zeit sinnvoller hätte füllen können. Und zudem erschien es ihm tröstlich, dass sich anscheinend außer ihm auch noch so viele andere ebenfalls mit dem alten Ambiorix beschäftigten. Er rückte seine Brille zurecht und machte sich auf einen langen Arbeitstag gefasst.
5. Kapitel
Der Mann krümmte sich vor Schmerzen. Draußen zuckten Blitze am schwarzen Himmel, ohne dass ein Donnern zu hören gewesen wäre. Die Hügel waren eben im Dunkel der Nacht noch wie weiche riesenhafte Wellen erschienen. Nun zeigten sie in den grellen Momentaufnahmen des unheimlichen lautlosen Sommernachtgewitters ihre schroffen Kanten. Bizarre Felsentürme und vereinzelt über die anderen Wipfel hinausragende Bäume fransten die Silhouette der Eifeler Höhenzüge aus.
Zitternde Hände entzündeten ein Streichholz und damit zwei Kerzen, die der Mann vor einem aufgeklappten Koffer aufgestellt hatte. Er betrachtete den Inhalt des Koffers im flackernden Kerzenlicht. Seine Augenlider zuckten, Schweiß rann ihm in die Augen. Er überlegte, ob er noch eine Schmerztablette nehmen sollte, und entschied sich dagegen. Hart wollte er sein, gegen sich nicht weniger als gegen alle anderen. Die Blitze zuckten in immer kürzeren Abständen, machten sekundenlang die Nacht zum Tag. Unwirklich sah der Himmel dann aus, wenn man sah, dass er auch in den Nachtstunden blau war. Der Mann fragte sich, wer diesen Himmel in diesem Augenblick außer ihm noch betrachtete.
»Leidest du?«,
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