Nach alter Sitte
zusammengewachsenen Augenbrauen wie bei ihrer Mutter. Die kleine, feine Nase, die nah am Kopf anliegenden Ohren, das energische Kinn. Solche Züge hatte er noch bei keinem anderen Menschen gesehen. Gerda. Woher kannte der Maler sie? War er derjenige, der sie als Letzter lebend gesehen hatte? Oder lebte sie doch noch? Lorenz schüttelte unwillig den Kopf. Er ahnte, dass der tückische Unbekannte genau dies gewollt hatte: dass er wie ein gefangener Tiger in seinem Zimmer auf und ab lief und sich quälende Fragen stellte.
Lorenz gab sich einen Ruck und murmelte: »Der in Ehren ergraute Ermittler war in diesem Moment zwar verzweifelt. Doch er war eben auch erfahren genug, um zu wissen, dass der Moment kommen würde, den Spieß umzudrehen und das Heft in die Hand zu nehmen. Dieser Moment war noch nicht da, doch es war nur eine Frage der Zeit.«
Ein Klopfen ließ den Alten aufhorchen. Er trat an den Eingang und öffnete. Bärbel stand da und sah ihn prüfend an. Lorenz trat zurück und bedeutete ihr wortlos einzutreten. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, fragte sie mit besorgter Miene: »Ich hatte gehofft, dass du zum Mittagessen kommen würdest. Du siehst nicht gut aus. Hast du etwa geweint?«
Lorenz fand, dass es nicht der Moment für Ausflüchte war. »Erwischt. Sieht man mir das so sehr an?«
Bärbel umarmte ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Er hielt still und ließ es geschehen.
»Was ist los? Setzt dir dein Gesicht auf diesem Bild so sehr zu?«
Lorenz zögerte. Sollte er ihr alles erzählen? Die ganze Wahrheit? Und was war denn überhaupt die Wahrheit? Er wusste es doch selbst nicht.
Bärbel spürte seine Unentschlossenheit. »Da ist doch noch etwas. Habe ich recht?«
Lorenz nickte. Er setzte sich hin und bedeutete Bärbel, ebenfalls Platz zu nehmen. Dann holte er tief Luft. »Die Frau auf dem Bild.« Er hielt inne, traute sich nicht weiterzusprechen. Bärbel horchte auf. »Dir kommt sie auch seltsam vor?«
Lorenz wollte dies bejahen und von Gerda erzählen, doch wieder stockte er. »Was meinst du mit seltsam? Ist dir etwa auch etwas an dieser Katharina aufgefallen?«
»Aber ja!« Bärbels Augen begannen zu glänzen. »Ich wusste zuerst nicht, was es war. Doch dann habe ich im Internet nach dem Original gesucht. Ich sagte dir ja in der Kirche schon, dass ich keine ausgesprochene Lochner-Spezialistin bin. Doch dann, als ich das Original gesehen und ein wenig über den Stil Stephan Lochners nachgedacht hatte, war es plötzlich völlig klar.«
Bärbel stand auf und ging zu dem Bild. Sie wies auf das Gesicht der heiligen Katharina. »Sieh her: Lochner malte die Frauengestalten immer puppenhaft, mit jugendlichen, geradezu kindlichen Gesichtern. Und hier – diese Katharina ist eine reife Frau, ganz und gar untypisch für Lochner. Im Original hat die Heilige rötliche Locken und ist sehr jung – die Märtyrerin starb der Sage nach auch in eher jugendlichem Alter. Diese falsche Katharina ist aber eine erwachsene blonde Frau, ich würde sagen, um die vierzig. Das ist eine ganz bewusste Änderung, bei den offensichtlichen Fähigkeiten des Malers sicherlich nicht unbeabsichtigt. Ich habe nur keine Ahnung, was das soll.«
Nun war es an Lorenz, seine Beobachtungen zu offenbaren. Als er sprach, kam ihm seine Stimme wie die eines Fremden vor. »Der Hintergrund ist der, dass es gar nicht die heilige Katharina ist, die dort abgebildet ist. Es ist Gerda, meine Tochter.«
Bärbel blickte ihn bestürzt an. »Deine Tochter? Die damals spurlos verschwand? Das ist ja schrecklich!« Lorenz sah, wie es hinter Bärbels Stirn arbeitete. Dann meinte sie: »Um Gottes willen! Meinst du, der Fälscher hat deine Tochter gemalt, wie sie heute – aussieht?«
Lorenz schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wie sie aussieht oder wie sie heute hätte aussehen können. Wer kann das wissen? Ich kann nur sagen, so ähnlich müsste meine Gerda heute aussehen, wenn sie damals nicht ermordet worden wäre.«
»Aber das ist doch gar nicht bewiesen!«, rief Bärbel aus. »Sie wurde doch nie gefunden! Und du weißt ganz genau: ohne Leiche kein Mord!« Sie schlug die Hände vor den Mund. »Entschuldige, Lorenz. Das wollte ich nicht sagen. Es ist zu schrecklich. Verzeih mir bitte.«
»Schon gut«, sagte Lorenz leise. »Du sagst nur die Wahrheit. Ich weiß, dass das so ist. Und doch habe ich immer gespürt, dass meine Gerda tot sein muss. Sie hätte sich sonst gemeldet. Sie war nicht der Typ, unterzutauchen und ihre Familie in
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