Nach alter Sitte
schon die zweite schlaflose Nacht in Folge verbrachte. So konnte er kaum zu helleren Gedanken kommen. Außerdem hatte er Hunger.«
Lorenz wunderte sich, ohne seinen Kommissar nicht darauf gekommen zu sein, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Er überlegte, ob er es nun auch noch bis zum nächsten Frühstück aushalten konnte, da es nun schon weit nach Mitternacht war, oder ob er sich in die Küche schleichen sollte und dabei das Risiko einging, der immerwachen Sibylle Klinkenberg in die Arme zu laufen. Angesichts dieses bedrohlichen Szenarios entschied er, dass sein Hunger doch nicht ganz so groß war, und er beschloss, zur Not am nächsten Morgen eben ausnahmsweise einmal einer der Ersten im Speisesaal zu sein.
6. Kapitel
Lorenz war tatsächlich der erste Bewohner der Seniorenresidenz Burgblick, der an diesem Morgen den Frühstücksraum betrat. Sein Magen war so leer, dass er über den Zustand des normalen Hungers bereits wieder hinausgeraten war. Als er am Buffet stand und darauf wartete, dass der erste Kaffee fertig wurde und die Brötchen ausgeliefert wurden, war ihm bewusst, dass er an diesem Morgen genau das tat, wofür er die anderen Mitbewohner immer schon verachtet hatte. Vielleicht waren diejenigen, die sonst immer lange vor ihm hier waren, gar nicht nur senil und wussten nichts anderes mit sich anzufangen. Vielleicht hatten sie auch ganz einfach ähnlich schlechte Nächte durchlebt wie er jetzt. Lorenz hatte sich nie ernsthaft darüber Gedanken gemacht, und mit einem Mal erschien es ihm sinnvoll, viel öfter die Welt aus der Sicht anderer Menschen zu sehen. Er hatte dies bis jetzt nur dann versucht, wenn es ihm geholfen hatte, die Zusammenhänge eines Verbrechens besser zu verstehen.
»So, die Brötchen sind da – ganz frisch und noch warm, Herr Bertold«, sagte die Küchenangestellte mit einem Lächeln.
»Vielen Dank«, antwortete er und bestückte seinen Teller. »Ich hatte eine schlechte Nacht, wissen Sie. Deshalb bin ich so früh«, fügte er noch hinzu.
»Das kann passieren, machen Sie sich nichts draus«, antwortete die Frau, lächelte verbindlich und begann, die ersten Kaffeekannen für die Tische zu füllen. Lorenz verstand, dass die Frau solche Sprüche vermutlich jeden Tag zu hören bekam und immer ähnlich darauf antwortete. Ein wenig beschämt setzte er sich und begann zu essen. Schnell hatte er ein Brötchen vertilgt und belegte sich ein zweites. Mittlerweile trafen die nächsten Frühaufsteher ein. Lorenz hatte das Gefühl, nicht in Gesellschaft sein zu können. So nahm er das zweite Brötchen und trat den Rückzug auf sein Zimmer an. Auch wenn eigentlich nicht zu befürchten war, um diese frühe Uhrzeit Bärbel oder Gustav zu begegnen, nahm er doch einen Umweg, um selbst das Unwahrscheinliche zu vermeiden. In diesem Moment hätte er mit den Freunden nicht sprechen wollen. Als er am wenigsten damit rechnete, traf er auf Benny Bethge. Gut gelaunt wie immer lachte der junge Pfleger ihn an. »Moin, Opa Bertold. Wer hat dich denn aus den Federn gejagt?«
»Senile Bettflucht«, brummte Lorenz zurück. »Mir geht’s heut nicht so doll. Möchte niemand sehen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Ich meine nur, falls jemand nach mir fragt. Ich geh auf mein Zimmer, und da bleib ich bis auf Weiteres.«
»Muss man sich Sorgen machen?«
»Ach wo. Alte Männer haben so etwas schon mal. Das wird auch noch an dich kommen, glaub mir.«
»Das sind ja tolle Aussichten.« Benny ließ sich die gute Laune zumindest augenscheinlich nicht nehmen. Die beiden gingen auseinander.
Bald hatte Lorenz sein Zimmer erreicht. Er legte das Brötchen auf den Tisch und sich selbst aufs Bett. An die Decke starrend, kreisten seine Gedanken immer um dieselben Fragen: Wer tat ihm dies jetzt an? Was war mit Gerda geschehen? War sie wirklich ermordet worden, und war ihr Mörder der Absender der Email und auch der Maler des seltsamen Bildes? Fragen, die nur wehtaten und für deren Beantwortung er keinen Ansatz fand. Lorenz schloss die Augen. Er wünschte, er könnte endlich einschlafen, irgendwann erfrischt wieder aufwachen und feststellen, dass das alles nur ein dummer Traum gewesen war, ausgelöst durch eine schwüle Sommernacht und einen schwachen Magen. Er drehte sich auf die Seite und sah aus dem Fenster. Ein hellgrauer Himmel hing über der Burgwand, das Grün der Bäume wirkte blass. Das nächtliche Gewitter hatte keinen Regen gebracht, keine Klärung der Luft. Aber es war noch früh.
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