Nach alter Sitte
Vielleicht würde die Sonne den Dunst ins Reich der Vergangenheit bannen, dort, wo alles fein säuberlich aufgestapelt wurde, bereitgelegt, um vergessen zu werden. Wer entschied, was im Gedächtnis bewahrt und was endgültig verworfen werden durfte? Er selbst? Wohl kaum, denn sonst hätte er manch quälende Erinnerung längst getilgt und manch vergessenes Kleinod nicht verloren. Ein frischer Frühlingsmorgen und die schöne Frau, die ihm ihre Liebe schenkt. Das Lachen der Kinder beim Spielen im Garten. Er wusste noch, dass es dies alles gegeben hatte, doch wo waren alle Einzelheiten, diese wunderschönen Perlen seines Lebenslaufes hin?
Marias Gesicht, das er manchmal in Fotos suchte, weil es ihm nicht mehr in der ihr gebührenden Detailliertheit vor dem inneren Auge erscheinen mochte. Gerdas erster Schultag. Stephan, der mehr aus Enttäuschung als Schmerz weinend dalag, nach dem ersten Sturz mit dem neuen Fahrrad, das er zu seiner Kinderkommunion bekommen hatte. Die neugeborene Rita auf Marias Arm, das erste Enkelchen. All das hatte es gegeben, doch wie genau hatte Marias Lachen mit zwanzig Jahren geklungen? Was war in Gerdas Schultüte? Welche Farbe hatte Stephans erstes Rad, und was trug Rita am Tag nach ihrer Geburt? Die Sandsteinfelsen Nideggens verschwammen vor den Augen des Alten, sein Blick trübte sich. So vieles war dahin. Und wie genau erinnerte er sich an die braune Uniform des Onkels, wenn er dem Vater drohte, er würde noch im KZ landen. Sogar die Aussprache dieser beiden Buchstaben hatte sich ins Ohr gebrannt, als wäre es eben erst gesagt worden. Kahzett. Die Bedeutung dieses sagenumwobenen Ortes war ihm nicht klar gewesen, darüber hatten die Eltern nie gesprochen. Aber er erinnerte sich sogar noch an die Schublade, in der das Hitlerportrait regelmäßig verschwand, wenn der Besuch die Wohnung verlassen hatte. Warum diese Erinnerung? Was glaubte denn dieser sture Bibliothekar in seinem Hirn, wozu diese Bilder gut wären? Hatte er diesen Lumpen etwa gebeten, peinlich genau die Worte Stephans zu konservieren, die sein Sohn ihm ins Gesicht schrie, als man sich gestritten hatte, wer Gerda vom Hauptbahnhof in Köln hätte abholen sollen: »Du weißt ja immer als Erster, wer Schuld hat!«
Schuld. Und wenn doch er selbst es gewesen war, der Gerda hatte abholen sollen, und nicht sein Sohn? Dann trug er eine Schuld, die nicht zu ertragen war. Und wenn es doch Stephan war, der versprochen und dann vergessen hatte, seine Schwester abzuholen? Dann wäre der Junge über zwanzig Jahre mit dieser Last und dem Vorwurf seines unbarmherzigen Vaters herumgelaufen. Also hatte er, Lorenz, sich in jedem Fall schuldig gemacht. Wurde er jetzt dafür zur Rechenschaft gezogen? Einen kurzen Augenblick zog Lorenz in Betracht, der Urheber des Bildes und der Email könne sogar Gutes im Schilde führen. Doch nur einen Augenblick. Was für ein unsinniger Gedanke.
Lorenz schreckte hoch, saß plötzlich aufrecht im Bett. Hatte er das Signal des Computers für eine eingehende Nachricht gehört? Schnell ging er hin und sah nach. Nein, das Eingangsfach wies keine neuen Nachrichten auf. Hatte er vielleicht geträumt? Lorenz sah auf die Uhr. Halb neun. Vielleicht war er tatsächlich kurz eingenickt. Er zog sich aus, legte einen Pyjama an und ging wieder ins Bett, in der Hoffnung, nun richtig zu schlafen und all das für ein paar Stunden beiseiteschieben zu können. Stephan. Er musste den Jungen anrufen. Jetzt gleich. Oder vielleicht doch eher morgen. Was zwanzig Jahre nicht geschehen war, konnte vielleicht auch noch einen Tag warten. Nur ein Tag, bis es ihm wieder bessergehen und er klarer denken und sprechen könnte. Nur ein Tag.
Als Lorenz die Augen wieder öffnete, sah er fast nichts. Es war dunkel. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz vor Mitternacht war. Hatte er wirklich den ganzen Tag verschlafen? Musste wohl so sein. Es schien ihm, als habe er irgendwann einmal ein Klopfen an der Tür gehört. Das musste aber schon Stunden her sein. Vielleicht Bärbel, die sich Sorgen um den Freund machte. Aber Benny hatte bestimmt ausgerichtet, dass er allein sein wollte. Lorenz stand auf. Auf dem Schreibtisch lag noch das Brötchen, das er sich am Morgen zubereitet hatte. Es war mittlerweile gummiartig weich geworden, aber das machte dem Alten nichts aus. Besser als hart, dachte er und nahm einen Bissen. Dann trat er zum Fenster und öffnete es. Der Himmel war sternenklar. Kaum eine Wolke trübte das glitzernde Firmament. Vermutlich
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