Nach alter Sitte
davor grauste es ihn nicht. Er hatte sein Leben gelebt, was konnte jetzt noch Großartiges kommen? Er hatte eine erwachsene Enkelin, seine Frau Maria war schon zwei Jahre tot, er selbst – nun ja. Jeder Tag war wertvoll, aber andererseits … Das Rätsel um Gerdas Verschwinden wollte er noch lösen, dann sollte es ruhig mit ihm zu Ende gehen. Bärbel kam ihm in den Sinn. Würde sie sehr traurig sein? Vermutlich. Aber wäre es dieselbe Trauer, die ihn gepackt hatte, als Gerda verschwand? Oder als Maria starb? Wohl kaum. War nicht alles, was er nun noch erleben konnte, kaum mehr als eine schwächere Variation des eigentlichen Lebens, das lange hinter ihm lag? Blasse Kopien der Originalbilder, die in seine Seele eingebrannt waren?
Lorenz beschloss, sich mit diesen Fragen nun besser nicht mehr zu beschäftigen. Er hatte alles Wesentliche bereits für sich durchdacht, was das anging. Nun kam es darauf an, sich auf diese Situation hier und jetzt zu konzentrieren. Und wenn es das Letzte sein würde, was er tat.
»Hier war's.« Benny wies auf die Stelle, wo er Lorenz’ Gehstock gefunden hatte.
»Gut«, sagte Rita. »Dann mal bitte diesen Bereich räumen. Jungs, ihr seid dran!«
Sie hatte ihr Spurensicherungsteam aus Köln anrücken lassen. Nun machten sich ein halbes Dutzend Spezialisten daran, den Boden nach Zeichen abzusuchen, die das Verschwinden Opa Bertolds erhellen konnten.
Rita trat mit Benny, Bärbel und Gustav beiseite. »Hier können wir jetzt erst einmal nichts tun. Sein Handy ist ausgeschaltet. Das würde er, denke ich, nicht tun, abgesehen davon, dass er seinen Stock nicht freiwillig liegen lässt. Wer von euch hat ihn denn weggehen sehen?«
Die vier sahen sich fragend an. Bärbel antwortete: »Wir standen noch zusammen und beobachteten den Professor und den Sohn des ermordeten Bauern, die miteinander sprachen.«
»Sie stritten sich«, warf Gustav ein.
»Meinetwegen«, sagte Bärbel. »Jedenfalls ging Lorenz näher, um etwas von dem Streitgespräch mitzubekommen. Wir blieben etwas zurück. Dann sah ich noch, wie Lorenz mit dem Professor und einer anderen Frau sprach, und beim nächsten Hingucken sah ich keinen der drei mehr da stehen.«
»Stimmt, mehr weiß ich auch nicht«, ergänzte Gustav. »Und Benny, du warst gar nicht da, oder?«
»Ich war am Grillplatz, da, wo ich gestern mit Vera gewesen bin.«
»Das ist wenig«, grübelte Rita. »Ihr habt nicht gesehen, ob er das Gelände allein oder in Begleitung verlassen hat?«
Die anderen schüttelten den Kopf. Ein Mann aus dem Spurensicherungsteam kam auf sie zu. »Frau Bertold, wir haben etwas gefunden.« Er hielt eine Plastiktüte in der Hand, in dem ein Tuch enthalten war. »Das ist ein Tuch, welches mit einer Flüssigkeit getränkt ist. Ich tippe auf Halothan, wie es auch im Falle der Studentin verwendet wurde. Wir werden versuchen, DNA von Opfer und Täter zu isolieren. Weitere augenscheinliche Spuren haben wir noch nicht gefunden. Ich empfehle den Einsatz eines Mantrailers.«
Rita nickte. »Sehr gut – ich habe das schon angeleiert, es steht ein Team auf Abruf bereit. Ich kümmere mich darum.«
»Was ist das?«, fragte Benny. »Mantrailer?«
»Ein Personenspürhund«, antwortete Rita. »Ich habe schon vorab einen angefragt, weil ich befürchtete, dass wir hier ganz schnell sein müssen und ohne einen solchen Spezialisten nicht weiterkommen werden. Benny, neben Opas Stock hätte ich gerne noch weitere Sachen von ihm. Am besten getragene Kleidung, an denen sein Geruch haftet. Kümmerst du dich darum? Und bitte nicht direkt anfassen, wenn’s geht. Ich will hier jetzt nicht weg, gebe dir aber einen Kollegen mit. Okay?«
»Aye, Sir Mam«, antwortete Benny.
Bärbel fasste Rita an einer Hand und sagte mit zitternder Stimme: »Jetzt ist es ernst, nicht wahr? Ich habe solche Angst.«
Rita drückte Bärbels Hand. »Ich auch, Bärbel. Ich auch. Aber meine Intuition sagt mir, dass Opa noch am Leben ist. Der Täter hat etwas Besonderes vor. Das gibt uns etwas Zeit. Zeit, die wir nutzen werden, verlass dich drauf.«
Seine Hände zitterten, als er die Kerzen entzündete. Waren es der Schmerz, die Nebenwirkungen der Medikamente oder doch die Erregung, die er nicht mehr ganz unter Kontrolle bekam, seit die Dinge ins Rollen gekommen waren?
»Brennen sollst du, brennen vor Schmerz«, flüsterte er und nahm einen Zeitungsausschnitt. Langsam führte er das vergilbte Papier an die Kerzenflamme. Es fing Feuer, noch bevor es die Flamme selbst berührt hatte.
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