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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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würde mich dort ein Windstoß treffen.
    Â»Keine Ahnung«, antworte ich.
    Ich sage ihr nicht, dass ich vermute, dass Schneider sich der Wiederholung bewusst ist. Er sieht erleichtert aus, während er das Programm erneut abspult. Als würde es ihm Sicherheit geben, wie ein Zimmer, das man vor dem Schlafengehen bereits einmal kontrolliert hat, in dem es keine bösen Überraschungen mehr geben kann, keine Monster unterm Bett.
    Durch Schneiders merkwürdiges Verhalten ist der Bann gebrochen. Die Klasse behandelt ihn jetzt fast wieder wie einen normalen Lehrer. Noch nicht ganz, aber die Atmosphäre ist lockerer geworden, es wird hier und da geschwätzt und kaum jemand versucht mehr, möglichst unauffällig zu sein. Auch Schneider selbst scheint sich allmählich besser zu fühlen, er sieht sogar dem einen oder anderen Schüler ins Gesicht, wie früher. Ich betrachte die Stelle an seiner Schulter, die ich vor zwei Monaten schon einmal angestarrt habe, die etliche von uns angestarrt haben, als alles vorbei war und Schneider in den Rettungswagen geschoben wurde. An seiner Schulter war Blut, viel Blut, es sickerte durch die Kleidung hindurch. Da wusste ich noch nicht, dass es David gewesen war, der unser aller Leben verändert hatte, mein eigener Bruder.
    Plötzlich merke ich, dass Schneider mich ansieht. Mein Blick löst sich von seiner Schulter, trifft sein Gesicht, er sieht mir direkt in die Augen. Er gibt mir keine Schuld. Aber es macht den Eindruck, als würde er denken: Du hast Tag für Tag den Tisch mit ihm geteilt, wie fühlt sich das an? Du hast Nacht für Nacht im selben Haus geschlafen wie er, du hast ihm etwas zum Geburtstag geschenkt, dir seine Schere ausgeliehen, sein Handtuch. Wie fühlt sich das an? Wie?
    Mir wird schlecht, die Übelkeit kommt in einer heftigen Welle und kämpft sich durch meine Speiseröhre nach oben. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe mit einem blöden Gefühl gerechnet, wenn ich Schneider zum ersten Mal nach seiner Rückkehr begegnen würde, mit Nervosität. Aber nicht mit diesem grässlichen Würgen im Hals.
    Â»Was ist los?«, flüstert Charlotte.
    Ich merke, dass ich mir die Hand auf den Mund gepresst habe. Ich kann ihr nicht antworten. Würde ich die Hand wegnehmen, dann müsste ich vielleicht vor uns auf die Bank spucken. Mit der Hand vorm Mund renne ich aus der Klasse, Schneider sagt nichts und ich schaffe es tatsächlich noch bis zu den Toiletten und übergebe mich dort. Dabei hatte ich geglaubt, es sei endlich vorbei. In den ersten Wochen kam die Spuckerei öfter vor, ich konnte einfach nichts bei mir behalten, und es konnte immer und überall passieren, dass mir plötzlich schlecht wurde. Auch als ich schon wieder zur Schule ging. Zum Glück war es aber nie während einer Schulstunde passiert. Irgendwann beruhigte sich mein Magen, seit drei Wochen war nichts mehr vorgefallen. Das Schlimmste ist, dass jeder in der Klasse weiß, warum es mir jetzt, heute, in der Stunde mit Schneider passiert ist. Auch die Leute in meiner Klasse haben mir nie Vorwürfe gemacht. Aber ich weiß, dass sie ebenfalls wissen und immer wissen werden, dass ich Tag für Tag den Tisch mit ihm geteilt habe, Nacht für Nacht im selben Haus geschlafen habe wie er, ihm etwas zum Geburtstag geschenkt und mir seine Schere ausgeliehen habe, sein Handtuch.
    In der Kloschüssel liegt das belegte Brot, das ich in der Pause gegessen habe. Ich kann tatsächlich noch erkennen, was dieser Essensbrei einmal war, und staune einen Augenblick lang darüber, ehe ich den Brei in die Kanalisation befördere. Dann spüle ich meinen Mund am Waschbecken aus und reibe die Lippen mit einem Papiertuch aus dem Spender trocken. Das Papiertuch ist hart, um den Mund herum rötet sich die Haut.
    Während ich zurück zum Klassenzimmer gehe, versuche ich, leise aufzutreten, damit kein Hall von den Flurwänden zurückgeworfen wird. Vor dem Saal, in dem Jannik sitzt, bleibe ich kurz stehen, drücke meine Handfläche gegen die geschlossene Tür. Dahinter höre ich die Stimme der Lehrerin, ich bin mir nicht sicher, wer sie ist, Neubauer oder Salzmann. Manchmal denke ich, ich könnte es ohne Jannik nicht schaffen, das alles irgendwann zu vergessen. Dann wieder denke ich, gerade durch ihn werde ich mich immer daran erinnern, weil er an jenem Tag ebenfalls in der Schule war. Ich habe die Schüsse gehört, er

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