Nach dem Amok
Und in ein paar Wochen wird vieles vorbei sein, wie ein böser Traum, einfach aufhören. Keine Sandra mehr, keine Räume voller Erinnerungen, keine falschen Gerüchte. Keine Entscheidungen gegen mich, weil man jemand anderen nicht verlieren will. Ich will mir trotz allem nichts vormachen; nur weil ich zwanzig Kilometer entfernt in einer fast genauso kleinen Stadt wie dieser zur Schule gehen werde, wird nicht plötzlich alles besser sein. Aber das eine oder andere bestimmt. Vielleicht werden sie an einer anderen Schule gar nicht wissen, wer ich bin. Vielleicht wird es aber doch rauskommen. Und möglicherweise wird es irgendwann sogar okay sein, dass sie es wissen. So oder so, es ist eine neue Chance.
»Ich glaube, ich lege mich ein bisschen hin, bevor Jannik mir die Hausaufgaben vorbeibringt.«
»Mach das. Brauchst du noch irgendetwas?«
Mit Samthandschuhen. Ihre Nachsicht mit mir wird aufhören, irgendwann. Dann werden die Vorhaltungen kommen, weil ich weggelaufen bin, die richtigen Vorhaltungen. Auch ich werde nicht mehr so nachsichtig mit ihnen sein wie heute, wo ich vor allem ihr Bemühen sehe. Wir werden ganz neu anfangen müssen.
»Nein, ich brauche nichts.«
Nur diese kleine Schonfrist. Um die nächsten Wochen noch zu überstehen.
Auf den Tellern liegen Frikadellenkrustenbröckchen. Die ganz harten Stellen hat keiner von uns mitgegessen.
Ich wache auf, als jemand an meine Zimmertür klopft. Wie lange ich geschlafen habe, weià ich nicht, aber alles an meinem Körper fühlt sich schwer an, als wäre es seit Ewigkeiten nicht mehr bewegt worden. In meinem Kopf ist ein dichter, drückender Nebel. Meine Mutter öffnet die Tür und betritt das Zimmer mit leisen, vorsichtigen Schritten.
»Habe ich dich geweckt?«
Sie hält mir das Telefon entgegen.
»Ist für dich«, sagt sie.
Der Nebel in meinem Kopf geht ein bisschen zurück. Ich nehme das Telefon aus ihrer Hand, es ist noch warm von ihren Fingern. Sie verlässt das Zimmer, wieder auf Zehenspitzen, als schlafe ich noch immer und sie wolle mich nicht wecken.
Haare knistern zwischen der Hörmuschel und meinem Ohr. Ich streiche sie zur Seite, das Telefon berührt jetzt meine Haut.
»Ja?«, melde ich mich.
»Hey«, antwortet jemand.
Dann ist es ein paar Sekunden lang still am anderen Ende der Leitung, bis ein leises Luftholen die nächsten Worte ankündigt.
»Hier ist Charly.«
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