Nach dem Amok
nachzugeben. Aber ich halte das nicht mehr aus, ich muss mit jemandem darüber reden.
»In der Schule ist es überall. In den Räumen, in den Fluren. In den Gesichtern der Schüler und der Lehrer.«
»Aber es war doch deine eigene Entscheidung, die Schule nicht zu wechseln!«
»Ich will ja auch nicht wechseln. Das wäre feige, findest du nicht?«
»Ich finde es gut, dass du dich damit auseinandersetzen willst. Aber verlange das bitte nicht von mir. David ist ⦠er ist nicht mehr da. Und er hat diese furchtbaren Dinge getan. Ich will es einfach nur vergessen, verstehst du das? Du solltest mit Dr. Holtmann darüber sprechen, er kann dir besser helfen als wir.«
»Ich will aber nicht mit dem Psychoheini darüber reden, sondern mit euch!«
Sie steht auf und schiebt ihren Stuhl dabei mit einem Ruck nach hinten. Ihre Hände zittern, als sie nun ebenfalls ihr Geschirr zusammenräumt.
»Die anderen in der Schule geben sich wirklich Mühe, aber ich erinnere sie alle jeden Tag daran, genauso wie ich Schneider daran erinnere.«
Das Besteck rutscht von ihrem Teller, SoÃe kleckert auf das Tischtuch. Sie blickt ungläubig auf den Fleck, der langsam in das helle Tischtuch einsickert. Ich denke an den durchtränkten Stoff an Schneiders Schulter. Mit einem Schluchzen sinkt sie wieder auf ihren Stuhl. Und dann sitzt sie einfach da, das Gesicht in den Händen vergraben, und weint. Ich nehme meine Gabel und spieÃe ein Stück Kartoffel auf, führe es zum Mund, kaue, schlucke. Eine weitere Gabel, noch eine und noch eine. Bis mein Magen höllisch wehtut. Ich esse den Teller komplett leer, als könnte ich sie damit irgendwie trösten.
4
Charlotte schreibt konzentriert in ihr Heft. Sie benutzt ausschlieÃlich Hefte mit Karomuster, keine mit Linien. Wegen der Schaubilder, sagt sie, wenn man sie nach dem Grund fragt. Aber in Deutsch oder Englisch gibt es keine Schaubilder und dennoch benutzt Charlotte auch in diesen Fächern die karierten Hefte. Wenn sie nicht bei der Sache ist, malt sie die kleinen Kästchen aus. Sie beginnt links oben an einem Karo, zieht einen Strich nach unten, dann nach rechts, nach oben, wieder nach links zum Ausgangspunkt zurück, und malt den umrandeten Bereich schlieÃlich aus. Die Quadrate, die auf diese Weise entstehen, umfassen oft nur ein einzelnes Kästchen, manchmal auch eine Viererkästchengruppe. Sie wirken durch ihre Häufung, bevölkern die Heftränder und schieben sich immer wieder auch zwischen die Lehrinhalte. Charlottes Hefte sind eine Ansammlung von sorgsam notiertem Unterrichtsstoff und konfusen dunklen Quadraten.
Es wird mir nie langweilig, dem Wachsen der Quadratbevölkerung zuzusehen, weil Umfang und Anordnung nicht vorhersehbar sind. Auch heute schweift mein Blick immer wieder von der Tafel und von Reinhardt, der den Unterrichtsstoff überaus wortreich vermittelt, zu Charlottes Heft. Reinhardt macht einen Witz, ein paar Leute lachen.
»Mist!«, sagt Charlotte, die dadurch aus ihren Träumereien aufwacht und erst jetzt ihren erneuten Karoflash bemerkt. Sie ärgert sich regelmäÃig über den Zustand ihrer Hefte und rückt den Quadraten, sofern sie mit Bleistift gezeichnet wurden, mit dem Radiergummi zu Leibe. Doch meist hält sie beim Einsetzen der Zeichenattacken ihren Kuli in der Hand. Auch jetzt bleibt ihr nichts anderes übrig, als die neuen dunkelblauen Störenfriede in ihrem Heft zu akzeptieren.
Reinhardt fährt mit dem Chemieunterricht fort, runzelt aber die Stirn, weil Gepolter und Geschrei zu hören ist, irgendwo im Stockwerk unter uns. Dort befinden sich unter anderem die beiden Kunstsäle, in denen öfter laut gelacht und gerufen wird. Doch dieses Geschrei klingt seltsam. Ich kann nicht sagen, warum es mir so ungewöhnlich erscheint. Ich sehe Charlotte an. Sie hat die Augenbrauen hochgezogen. Reinhardt ist inzwischen verstummt und runzelt immer noch die Stirn. Auch der Rest der Klasse horcht nach den Geräuschen von unten.
»Jetzt reicht es aber!«, befindet Reinhardt und steuert auf die Tür zu. »Da ist wohl der Lehrer noch nicht da.«
Markus kichert. Er freut sich, wie wir alle, auf ein paar unterrichtsfreie Minuten. So wie ich ihn kenne, wird er Reinhardt hinterherschleichen und dessen Standpauke an die Kunst-Schüler lauschen. Danach wird er uns haarklein davon berichten und seine Schilderung mit vielen Gesten und ein paar
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