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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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ich.
    Sie macht eine kurze Pause, und ich glaube schon beinahe, dass sie es nun doch nicht erzählt und wir wieder zum Schweigen übergehen werden. Aber dann holt sie Luft, ziemlich tief, als könne sie nur auf diese Weise genug Atem aufbringen für das, was zu sagen ist. Sie muss es noch ein zweites Mal tun, ehe der Atem endlich ausreicht.
    Â»Ich bin letzte Woche am Marktstand beschimpft worden. Vor den Augen der Verkäuferin und der anderen Kunden. Da war eine Frau, die ich vom Sehen her kannte, ich glaube, sie arbeitet in der Bäckerei am Goetheplatz. Wisst ihr, was die gesagt hat? Wollt ihr es wissen? Solche Leute wie uns sollte man aus der Stadt jagen! Ein halbes Dutzend Kunden hat das gehört, und jeder schien zu wissen, wer ich bin. Ich habe es ihnen angesehen, sie wussten es! Und die Wegert aus unserem Tanzkurs vom letzten Jahr stand neben mir und hat einfach weggesehen und so getan, als würde sie mich nicht kennen!«
    Es sprudelt nur so aus ihr heraus. Dann versiegt ihr Redeschwall ebenso plötzlich, wie er begonnen hat. Sie greift nach meinem leeren Teller, geht in die Küche und füllt ihn ungefragt auf, obwohl ich gar keinen Hunger mehr habe.
    Â»Da kann man nichts machen«, murmelt er. »Manche Leute sind nun mal borniert.«
    Ich möchte ihn an den Schultern packen und schütteln. Er soll endlich aufwachen! Es ist nicht zum ersten Mal passiert, dort auf dem Markt, es geschieht überall und wird vermutlich noch oft geschehen. Ich weiß, dass sie auf dem Friedhof von Fremden beleidigt worden ist, als sie an Davids Grab war. Die Friedhofsbesucher kannten sie nicht einmal flüchtig; allein die Tatsache, dass sie an seinem Grab stand, machte diese Leute aggressiv. Sie hat mir davon erzählt. Besser gesagt, sie hat davon geredet, als sie an jenem Tag vom Friedhof zurückkam, und ich war gerade anwesend und habe es gehört. Sie hat nicht wirklich zu mir gesprochen. Sie hat sich auf das Sofa gesetzt und die Geschichte rekapituliert, als könne sie das, was ihr auf dem Friedhof widerfahren war, erst dann wirklich glauben, wenn es in Worte gefasst wurde.
    Â»Das ist ihr schon mal passiert«, sage ich jetzt leise zu ihm. Sie ist noch immer in der Küche beschäftigt. Ich möchte nicht, dass sie hört, wie ich es ihm erzähle. »Auf dem Friedhof hat sie auch jemand angegriffen.«
    Â»Da ist sie doch selbst schuld«, sagt er und klingt dabei fast unbeteiligt. »Warum rennt sie auch zu dem verfluchten Grab.«
    Er scheint vom Verhalten der Leute kein bisschen überrascht zu sein. Und was noch viel schlimmer ist: Es scheint ihm egal zu sein, dass man ihr wehtut. Er ahnt nicht, dass auch ich mehrmals Davids Grab besucht habe. Davon habe ich niemandem erzählt, nicht einmal ihr, die alle paar Tage zum Friedhof geht. Ich will nicht, dass sie weiß, dass ich zum Grab gehe, weil sie sonst fragen würde, ob wir zusammen hingehen wollen, und ich will nicht mit ihr gemeinsam an Davids Grab stehen und meinen Hass spüren, der immer wieder über die Trauer schwappt und den ich dann vielleicht unkontrolliert der Erde entgegenschreien würde.
    Sie kommt aus der Küche zurück, stellt den vollen Teller vor mir ab. Er ist überladen mit Kartoffeln, Mais und Fleischstücken. Mir dreht sich der Magen um bei dem Gedanken, das alles noch in mich hineinzuschaufeln.
    Â»Habt ihr etwas gesagt?«, fragt sie.
    Â»Papa meint, du sollst dir das Gerede der Leute nicht so zu Herzen nehmen.«
    Â»Ach, das sagt sich so leicht.«
    Sie setzt sich wieder zu uns und blickt unschlüssig auf dem Tisch herum. Da ist kein Teller mehr, den sie auffüllen könnte.
    Â»Ich weiß nicht, wie ich mit Schneider umgehen soll«, sage ich.
    Â»Behandelt er dich ungerecht?«, will sie wissen.
    Â»Nein, aber ich erinnere ihn an …«
    Er wirft sein Besteck mit lautem Klirren auf den Teller.
    Â»Ich bin fertig«, verkündet er und steht auf.
    Er trägt sein Gedeck in die Küche, entsorgt die verbliebenen Essensreste im Mülleimer und räumt das Geschirr in die Spülmaschine. Das alles tut er sehr geräuschvoll.
    Â»Du darfst ihm nicht böse sein«, sagt sie. »Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll.«
    Â»Weißt du es denn?«
    Â»Lass uns über etwas Schöneres reden, Schatz.«
    Â»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«
    Sie sieht mich so hilflos an, dass ich kurz überlege, ihrem Wunsch

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