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Nach dem Amok

Titel: Nach dem Amok Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myriam Keil
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leeren Räume, um dort wenigstens für ein paar Minuten ohne all diese Stimmen und Gesichter zu sein.
    Und dann laufe ich auch noch Norman direkt vor die Füße. Wir stehen uns plötzlich im Weg, einer muss dem anderen ausweichen; wer auszuweichen hat, ist klar. Die Situation ist anders als neulich im Kaufhaus, denn hier in der Schule ist sein Revier. Er sieht mich an. Sicherlich weiß er, dass ich Davids Schwester bin, doch er hat nie mit mir geredet, hat mich nicht damit konfrontiert, dass er wegen meines Bruders eine Kugel im Bauch stecken hatte, die wie durch ein Wunder keine inneren Organe verletzt hat. Wahrscheinlich hat er den Mund gehalten, weil ihm bewusst ist, dass er das Geschehen mitverursacht hat. Auch jetzt sagt er nichts, sieht mich nur an, mit einem lauernden Blick, in dem eine Drohung steckt. Wehe, wenn du irgendwas ausplauderst, sagt dieser Blick. Als habe er keinen Zweifel daran, dass ich über das Bescheid weiß, was sie David angetan haben. In seinen Augen erkenne ich, was ich zu erwarten hätte, sollte ich es irgendjemandem erzählen. Mein Herz beginnt zu rasen, wieder überfällt mich das Schwindelgefühl, das mich in letzter Zeit häufiger heimsucht. Ich mache einen Schritt zur Seite, gehe an ihm vorbei. Kein Wort von ihm, keine Geste. Keine offensichtliche Drohung, und doch hat sein Blick alles gesagt. Ich merke, dass ich mich nicht an die Farbe seiner Augen erinnern kann, obwohl ich gerade mehrere Sekunden lang hineingesehen habe. Nur was ich in ihnen gesehen habe und wie es sich angefühlt hat, das weiß ich und werde es wahrscheinlich nie wieder vergessen.
    Jannik, denke ich, ich muss Jannik finden, sonst werde ich verrückt. Ich suche nach ihm und finde ihn ziemlich schnell neben der Eingangstür zu dem Gebäudeteil, in dem das Sprachlabor liegt. Sandra ist bei ihm, wie könnte es anders sein, außerdem Andi und Patrick. Ich zögere. Sie haben mich noch nicht bemerkt. Ich entscheide mich, nicht zu ihnen zu gehen. Ich drehe um, entferne mich ein paar Schritte, nicht zu schnell, damit nicht doch noch einer von ihnen auf mich aufmerksam wird.
    Â»Na?«, höre ich jemanden neben mir. Es ist Charlotte. »Warum gehst du denn nicht zu ihnen?«
    Mich jetzt auch noch erklären zu müssen, hat mir gerade noch gefehlt. Ich zucke mit den Schultern. Aber Charlotte lässt nicht locker.
    Â»Du fühlst dich nicht mehr wohl in der Clique, oder?«
    Wenn ich jetzt losheulen dürfte. Charlotte meint es gut mit mir, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber ich darf nicht heulen, nicht hier, mitten auf dem Schulhof. Während wir langsam weitergehen, kaue ich auf meinen Lippen herum. Immer konzentrieren, auf die Lippen und auf die Schritte, beschwöre ich mich selbst. Einen Fuß vor den anderen setzen.
    Charlotte legt behutsam eine Hand auf meine Schulter. Das ist zu viel.
    Â»Nicht weinen, Maike«, sagt sie etwas hilflos und sucht in ihrer Jacke nach einem Taschentuch. Als sie es gefunden hat, hält sie es mir zaghaft hin. Zuvor allerdings hat sie sich umgesehen, ob uns jemand beobachtet.
    Â»Tut mir leid«, fühle ich mich verpflichtet zu sagen, als ich das Taschentuch aus ihrer Hand nehme.
    Es klingelt. Dieses lang anhaltende, scheppernde Geräusch. Charlotte wirkt erleichtert.
    Â»Los, gehen wir hoch«, sagt sie.
    Wir steigen nebeneinander die Treppen nach oben. Immer wenn wir von einer Treppe zur nächsten wechseln, muss ich etwas schneller laufen als sie, weil ich außen gehe und einen längeren Weg habe. Charlotte steigert das Tempo.
    Â»Charly«, sage ich.
    Ich nenne sie nur selten so, seit dem Vorfall überhaupt nicht mehr. Das habe ich nur in Momenten getan, in denen wir uns einander näher gefühlt haben, als es bloße Sitznachbarinnen tun. In den Wochen vor den Schüssen habe ich sie öfter Charly genannt. Ich glaube, wir waren gerade dabei, richtige Freundinnen zu werden.
    Sie bleibt stehen, ihr rechter Fuß stößt an eine Treppenstufe. Sie schaut mich unsicher an.
    Â»Sieht man, dass ich geweint habe?«, frage ich.
    Eigentlich möchte ich etwas anderes fragen. Können wir dorthin zurück?, will ich fragen. Dorthin, wo ich dich Charly genannt habe. Irgendwann mal wieder.
    Â»Warte«, sagt sie.
    Sie nimmt das zerknautschte Taschentuch aus meiner Hand, zum Glück habe ich damit nur Tränen abgewischt und nicht reingeschneuzt, und tupft damit vorsichtig unter meinen Augen

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