Nach dem Amok
herum, ein bisschen hier, ein bisschen dort. Ich schlieÃe die Augen und möchte nicht, dass sie auf- hört.
»Jetzt sieht man nichts mehr.«
»Danke.«
Sie lächelt.
»Kein Ding«, sagt sie.
Dann sind wir oben angelangt, erreichen den Saal. Die Deutschstunde wird pünktlich beginnen. Es hat noch nicht zum zweiten Mal geläutet, aber die Salzmann steht bereits vor der Tafel und wischt sie ab, weil der Tafeldienst es wieder mal versäumt hat. Sie nimmt das anstandslos hin und wischt selbst, so macht sie es immer. Keiner von uns denkt mehr ans Wischen vor der Deutschstunde.
Als ich mittags nach Hause komme, finde ich ein Szenario vor, das ich in der letzten Zeit sehr oft zu sehen bekomme: Sie sitzen nebeneinander auf dem Sofa, scheinen einander jedoch überhaupt nicht wahrzunehmen. Er ist heute früher von der Arbeit gekommen, weil sich ein Handwerker wegen der Küchentür angekündigt hat, die neuerdings über den Boden schleift. Da sitzen sie nun, er liest die Zeitung, sie sieht fern. Irgendwann stellt sie den Ton ab und beginnt, ihre FuÃnägel zu lackieren. Wozu, denke ich, für offene Schuhe ist es noch nicht warm genug, und sie geht doch ohnehin kaum mehr aus dem Haus. Wieder einmal kommt es mir so vor, als ob sie manisch alles weitermacht, ganz egal, ob es noch irgendeinen Sinn ergibt oder nicht. Unsere Wohnung ist eine Gespensterbehausung geworden.
Ich setze mich neben sie und schaue ihr eine Weile beim Nägellackieren zu. Die gefalteten Wattepads zwischen ihren Zehen. Auf zwei der Wattepads klebt danebengegangene rote Farbe, wie Blut. Ich atme den stechenden Geruch des Nagellacks ein.
»Darf ich auch mal?«, frage ich.
Sie scheint meine Anwesenheit erst jetzt zu bemerken. Wortlos reicht sie mir das inzwischen verschlossene Fläschchen. Ich öffne es und schnuppere daran, dann nehme ich einen tiefen Atemzug. Was wohl passiert, wenn man länger inhaliert?
»Was machst du denn da«, sagt sie kopfschüttelnd.
Ich streiche mit dem Pinsel ein bisschen Farbe auf meinen linken Daumennagel. Es ist nicht meine Farbe, zu dunkel, zu rot, zu schwer.
»Kann ich dich mal was fragen?«
»Sicher«, sagt sie.
Hinter der Zeitung ein Räuspern. Sein Gesicht, seine Haare, alles ist hinter dem bedruckten Papier verschwunden. Nur Finger sind zu sehen, vier rechts, vier links, die die Zeitung halten, darunter ein paar Beine, die in braunen Hosen stecken, FüÃe in grauen Socken und Hausschuhen. Der Rest existiert nicht mehr.
»Würdest du manchmal gern wissen, warum David das gemacht hat? Also, ich wüsste es gern.«
»Ach, Maike. Ich mache mir auch Vorwürfe. Aber es bringt doch nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir werden nie erfahren, warum er keinen anderen Ausweg gesehen hat.«
»Vielleicht ja doch.«
Hinter der Zeitung wird es unruhig, das Papier zuckt.
»Wie meinst du das?«, fragt sie.
»Ich habe einen Blog von David gefunden.«
Sie schaut mich verständnislos an. Natürlich weià sie nicht, was ein Blog ist.
»Einen Blog schreibt man im Internet, jeder kann die Einträge lesen. Es ist so ähnlich wie ein Tagebuch.«
»Aber wer schreibt denn Tagebucheinträge öffentlich ins Internet?«
»Viele machen das. Man kann da anonym bleiben, wenn man will. David hat auch nicht unter seinem richtigen Namen geschrieben. Ich habe den Blog jetzt erst gefunden.«
»Aber woher willst du denn wissen, dass es von ihm ist, wenn er nicht unter seinem Namen geschrieben hat?«, wirft sie ein, fast ein bisschen triumphierend hört es sich an. Sie glaubt wohl, über dieses Hintertürchen der Auseinandersetzung mit den neuen Fakten entkommen zu sein.
»Es ergibt sich aus den Inhalten.«
»So ein Unsinn«, mischt sich die Zeitung ein. Endlich sinkt sie herab, gibt den Blick auf sein etwas gerötetes Gesicht frei. »Ich will nicht, dass du deine Mutter mit so einem Humbug verrückt machst.«
»Aber die Ungewissheit ist doch viel schlimmer!«
»Schluss jetzt!«, poltert er los, pfeffert die Zeitung neben sich und steht auf. »Hat man hier denn nirgendwo seine Ruhe!«
»Ich will, dass ihr euch den Blog anseht!«
»Geh auf dein Zimmer, Maike!«
»Aber ich habe doch gar nichts gemacht!«
»Achim, bitte, das bringt doch nichts!«
Er stürmt aus dem Raum. Kurz darauf fällt die Wohnungstür zu.
»Es tut mir leid,
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