Nach Dem Sommer
überlegte, wann ihm wohl das letzte Mal jemand gesagt hatte, dass er ihn liebte.
Der Gedanke machte mich traurig.
Ich stand auf und nahm wieder Sams Hand; seine Finger schlossen sich so fest um meine, dass es beinahe wehtat. »Diese Buttercremetörtchen sehen fantastisch aus«, sagte ich. »Können wir davon welche nehmen?«
Sam nickte dem Mädchen hinter der Theke zu. Ein paar Minuten später hielt ich eine kleine Papiertüte voller Süßigkeiten in der Hand und Sam hatte Sahne an der Nasenspitze. Ich wies ihn darauf hin und er verzog verlegen das Gesicht, bevor er sie mit dem Ärmel abwischte.
»Ich laufe voraus und lass schon mal den Wagen an«, sagte ich und reichte ihm die Tüte. Er sah mich wortlos an. »Damit er warm wird«, fügte ich hinzu.
»Ach so, richtig. Gute Idee.«
Ich glaube, er hatte vergessen, wie kalt es draußen war. Ich aber nicht, und ich hatte schon ein fürchterliches Bild vor Augen, wie er zuckend im Auto saß, während ich panisch die Heizung hochdrehte. Er blieb hinter der Ladentür stehen und ich lief hinaus in den kalten Winterabend.
Es war verrückt, wie einsam ich mich fühlte, kaum dass die Tür hinter mir zugefallen war. Die ungeheure Weite der Dunkelheit schien mich zu verschlingen und ich fühlte mich verloren ohne den rettenden Anker von Sams Berührung und seinen Duft. Hier kannte ich mich kein bisschen aus. Wenn Sam sich jetzt in einen Wolf verwandelte, wusste ich nicht, wie lange ich brauchen würde, um nach Hause zu finden, oder was ich mit ihm machen sollte - ich könnte ihn ja nicht einfach hierlassen, so viele Autobahnmeilen von seinem Wald entfernt. Ich würde ihn in beiden Gestalten verlieren. Die Straße war bereits von einer weißen Schicht überzogen und immer mehr Schneeflocken rieselten rings um mich nieder, zart und bedrohlich zugleich. Als ich die Autotür aufschloss, stand mein Atem in geisterhaften Wolken vor meinem Gesicht.
Diese wachsende Unruhe kannte ich gar nicht von mir. Ich zitterte und wartete im Bronco, bis er ein wenig aufgeheizt war; dabei nippte ich an meiner heißen Schokolade. Sam hatte recht, die Schokolade war unglaublich, und es ging mir sofort etwas besser. Der kleine Hauch Minze verbreitete in gleichem Maße Kälte in meinem Mund, wie die Schokolade ihn mit Wärme füllte. Das wirkte irgendwie beruhigend, und als es im Auto warm genug war, kam ich mir ein bisschen albern vor, dass ich mir eingebildet hatte, heute Abend würde noch irgendwas Schlimmes passieren.
Ich sprang aus dem Bronco und steckte den Kopf in den Süßigkeitenladen, wo Sam hinter der Tür auf mich wartete. »Alles bereit.«
Sam erschauderte sichtlich, als er den kalten Lufthauch spürte, der durch die Tür zu ihm hineinwehte, und ohne ein Wort rannte er los in Richtung Wagen. Ich rief dem Mädchen an der Theke noch schnell ein Danke zu, bevor ich hinter Sam herlief. Auf dem Weg zum Auto aber sah ich etwas auf dem Boden, das mich anhalten
ließ. Neben den Fußspuren, die Sam hinterlassen hatte, verlief noch eine andere, ältere Spur, die mir zuvor gar nicht aufgefallen war. Sie führte immer wieder vor dem Süßigkeitenladen auf und ab.
Ich folgte der Spur mit den Augen, wieder und wieder vor dem Laden hin und her, mit langen, leichten Schritten; dann wanderte mein Blick der Spur hinterher den Bürgersteig hinunter. Etwa fünf Meter entfernt lag dort ein dunkler Haufen auf dem Boden, gerade außerhalb des hellen Lichtkreises der Straßenlaterne. Ich zögerte. Steig einfach ins Auto , dachte ich, doch mein Instinkt war erwacht und ich ließ mich von ihm leiten.
Es waren eine dunkle Jacke, eine Jeans und ein Rollkragenpullover. Und eine Spur von Pfotenabdrücken, die von den Kleidungsstücken weg durch das leichte Schneegestöber führte.
Kapitel 44 - Sam (0°C)
E s hört sich blöd an, aber was ich an Grace besonders liebte, war, dass sie nicht ständig reden musste. Manchmal wünsche ich mir einfach, dass ein Schweigen stumm bleibt, voller Gedanken und frei von Worten. Ein anderes Mädchen hätte vielleicht versucht, mir eine Unterhaltung aufzudrängen, doch Grace nahm nur meine Hand und legte unsere verschlungenen Finger auf mein Knie und den Kopf an meine Schulter, bis Duluth hinter uns lag. Sie fragte nicht, wieso ich mich so gut in der Stadt auskannte oder warum ich den Blick nicht von der Straße hatte lösen können, in die meine Eltern immer auf dem Nachhauseweg eingebogen waren, oder wie es kam, dass ein Junge aus Duluth in einem Wolfsrudel an der
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