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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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beeindruckend im Tageslicht. Sie schien die Jagd ohne einen Kratzer überstanden zu haben. Mit schräg gehaltenem Kopf, die Ohren leicht angelegt, beäugte sie mein bizarres Outfit.
    »Schhh ...«, machte ich und streckte ihr meine Hand entgegen, mit der Handfläche nach oben, und ließ das, was von meinem Geruch noch übrig war, zu ihr hinüberwehen. »Ich bin's.«
    Angewidert verzog sie die Schnauze und wich langsam zurück. Wahrscheinlich roch sie Grace' Duft, der meinen überlagerte. Ich konnte ihn jedenfalls riechen, sogar jetzt noch; ihr Geruch, federleicht und seifig, hing in meinem Haar, wo es ihr Kissen berührt hatte, und haftete an meiner Hand, die sie gehalten hatte.
    Shelbys Augen funkelten wachsam, und ich erkannte darin den Gesichtsausdruck, den sie als Mensch gehabt hätte. So war es immer zwischen Shelby und mir - ich konnte mich nicht erinnern, dass zu irgendeiner Zeit einmal kein Konflikt zwischen uns geschwelt hätte. Ich klammerte mich an meine Menschlichkeit - und an meine Besessenheit von Grace - wie ein Ertrinkender, Shelby aber sehnte sich nach dem Vergessen, das ihre Wolfsgestalt mit sich brachte. Nun gut, sie hatte sicher auch einiges, was zu vergessen sich lohnte.
    So standen wir da, in diesem Septemberwald, und blickten uns an. Ihre Ohren zuckten vor und zurück, nahmen Dutzende von Geräuschen auf, die meinen menschlichen Ohren verborgen blieben, und ihre Nasenflügel bebten, erkundeten, wo ich gewesen war. Ich ertappte mich dabei, wie ich an das Gefühl trockener Blätter unter meinen Pfoten dachte und mir den scharfen, üppigen Duft dieses schlaftrunkenen Herbstwaldes vorstellte, so wie ich ihn als Wolf wahrnehmen würde.
    Shelby starrte mir in die Augen - ein ziemlich menschliches Verhalten, wenn man bedachte, dass ich weit über ihr in der Rangfolge des Rudels stand und sich außer Paul und Beck niemand so etwas erlauben durfte -, und ich stellte mir vor, dass sie mich, wie schon
    so oft, mit ihrer menschlichen Stimme fragen würde: Fehlt es dir denn gar nicht?
    Ich schloss die Augen und sperrte damit die Eindringlichkeit ihres Blicks und die Erinnerung an meinen Wolfskörper aus. Stattdessen dachte ich an Grace im Haus ihrer Eltern. Keines meiner Erlebnisse als Wolf konnte sich mit dem Gefühl von Grace' Hand in meiner messen.
    Augenblicklich begann dieser Gedanke sich in meinem Kopf zu verformen und wurde zu einem Songtext. You're my change of skin / my summer-winter-fall / I spring to follow you / this loss is beautiful.
    In derselben Sekunde, die ich brauchte, den Vers zu dichten und mir die passenden Gitarrenakkorde dazu vorzustellen, war Shelby schon im Wald verschwunden, still und leise wie ein Flüstern.
    Die Tatsache, dass sie sich genauso lautlos davonstehlen konnte, wie sie sich auch an mich herangeschlichen hatte, rief mir in Erinnerung, wie verwundbar ich gerade war, und ich stapfte eilig auf die kleine Hütte zu, in der ich meine Kleidung versteckt hielt. Schon vor Jahren hatten Beck und ich den alten Schuppen Stück für Stück in seinem Garten ab- und auf einer kleinen Lichtung tief im Wald wieder aufgebaut.
    Im Inneren befanden sich ein Heizofen, eine Bootsbatterie und mehrere mit Namen beschriftete Plastikboxen. Ich öffnete die Kiste mit meinem Namen und zog einen vollgestopften Rucksack heraus. Die anderen Boxen enthielten Essen, Decken und Ersatzbatterien -Ausrüstung, mit der man ein paar Tage in diesem Schuppen überleben konnte, während man darauf wartete, dass die anderen Rudelmitglieder sich verwandelten - meine aber enthielt alles, was ich zur Flucht brauchte. Alles in dieser Box war darauf ausgerichtet, so schnell wie möglich wieder einen normalen Menschen aus mir zu machen, und genau das konnte Shelby mir nicht verzeihen.
    Schnell schlüpfte ich in eine Jeans und mehrere Schichten von Pullovern. Die viel zu großen Stiefel von Grace' Vater tauschte ich gegen ein Paar Wollsocken und meine abgenutzten Lederschuhe ein. Dann nahm ich mein Portemonnaie mit dem Geld, das ich letzten Sommer im Buchladen verdient hatte, und stopfte alles andere in den Rucksack. Als ich beim Hinausgehen die Tür hinter mir zuzog, sah ich aus dem Augenwinkel eine dunkle Bewegung.
    »Paul«, sagte ich, aber der schwarze Wolf, unser Rudelführer, war schon wieder verschwunden. Ich bezweifelte, dass er mich so überhaupt erkennen würde: Für ihn war ich wahrscheinlich einfach nur irgendein Mensch, der sich im Wald herumtrieb, trotz des vage vertrauten Geruchs. Bei diesem Gedanken

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