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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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spürte ich ein ganz leichtes Prickeln der Enttäuschung irgendwo tief in der Kehle. Letztes Jahr war Paul erst im August wieder zu einem Menschen geworden. Es war gut möglich, dass er sich dieses Jahr gar nicht mehr zurückverwandelte.
    Ich wusste, dass auch meine mir verbleibenden Sommer in Menschengestalt gezählt waren. Letztes Jahr hatte ich mich im Juni verwandelt, und das war ein beängstigend großer Sprung zum Jahr davor - da war Frühling gewesen und es hatte noch Schnee gelegen. Und dieses Jahr? Wann hätte ich wohl meinen Körper zurückbekommen, wenn Tom Culpeper mich nicht angeschossen hätte? Ich verstand noch nicht mal so recht, warum ich mich dadurch überhaupt zurück in einen Menschen verwandelt hatte, in diesem kühlen Wetter. Ich dachte daran, wie eisig es gewesen war, als Grace sich neben mich gekniet und mir ein Tuch auf die Wunde an meinem Hals gedrückt hatte. Der Sommer war schon lange vorbei.
    Die leuchtenden Farben der trockenen Blätter rings um die kleine Hütte schienen mich zu verspotten; sie bezeugten, dass ein Jahr zur Neige gegangen war, ohne dass ich es bemerkt hatte. Und mit einer plötzlichen, schaurigen Gewissheit wurde mir klar, dass dies mein letztes Jahr sein würde.
    Dass ich Grace erst jetzt getroffen hatte, kam mir vor wie ein unglaublich grausames Spiel des Schicksals.
    Ich wollte nicht daran denken. Stattdessen lief ich zurück zum Haus, nicht ohne mich kurz zu vergewissern, dass die Autos von Grace' Eltern immer noch weg waren. Ich ging ins Haus und blieb einen Moment lang unentschlossen vor Grace' Zimmertür stehen, dann wanderte ich ziellos durch die Küche, guckte in die Schränke, ohne wirklich Hunger zu haben.
    Gib's doch zu. Du hast Angst, wieder reinzugehen. Ich wollte sie so gerne wiedersehen, diesen Geist, der jahrelang hartnäckig durch mein Leben im Wald gespukt war. Aber ich fürchtete mich auch -davor, dass sich die Dinge ändern könnten, wenn sie mir im schonungslosen Tageslicht gegenüberstand. Oder - noch schlimmer -dass sich nichts änderte. Letzte Nacht hatte ich auf ihrer Veranda gelegen und war fast verblutet. Jeder hätte mich retten können. Heute brauchte ich mehr als jemanden, der mich rettete. Aber was, wenn sie doch nur einen Freak in mir sah?
    Du bist eine Schande für Gottes Schöpfung. Du bist verflucht. Du bist der Teufel. Wo ist mein Sohn? Was hast du mit ihm gemacht? Ich schloss die Augen. So viele Dinge hatte ich verloren - warum nur nicht die Erinnerung an meine Eltern?
    »Sam?«
    Ich zuckte zusammen. Grace rief in ihrem Zimmer noch mal nach mir, kaum mehr als ein Flüstern. Sie fragte sich, wo ich war. Es lag keine Angst in ihrer Stimme.
    Ich stieß die Tür auf und sah mich im Zimmer um. Im hellen Licht des Vormittags konnte ich nun sehen, dass es das Zimmer einer Erwachsenen war. Keine Reste von Rosa, keine Stofftiere, falls es bei Grace jemals so etwas gegeben hatte. An den Wänden hingen gerahmte Fotos von Bäumen, die schwarzen Rahmen schmucklos und zueinander passend. Ebenso wie die schwarzen Möbel, die schlicht und zweckmäßig wirkten. Auf einer Kommode lagen ordentlich gefaltet ihr Handtuch und ihr Waschlappen, daneben eine Uhr - schwarz-weiß, klare Linien - und eine Reihe Bibliotheksbücher, den Titeln nach zu urteilen hauptsächlich erzählende Sachbücher und Krimis. Vermutlich dem Alphabet oder dem Umfang nach geordnet.
    Plötzlich wurde mir bewusst, wie unterschiedlich wir waren.
    Wenn Grace und ich Gegenstände wären, dachte ich, dann wäre sie eine Hightechdigitaluhr, technische Perfektion, synchronisiert mit der Londoner Weltzeituhr, ich aber wäre eine Schneekugel - durcheinandergewirbelte Erinnerungen in einer Kugel aus Glas.
    Fieberhaft suchte ich nach Worten, die nicht klangen, als wäre ich von einem anderen Stern. »Guten Morgen«, brachte ich schließlich heraus.
    Grace setzte sich auf, ihr Haar auf der einen Seite verwuschelt und auf der anderen Seite platt, in ihren Augen las ich aufrichtige Freude. »Du bist ja noch hier! Oh, du hast ja was an. Ich meine, keine Krankenhausklamotten mehr.«
    »Die hab ich geholt, als du noch geschlafen hast.«
    »Wie spät ist es denn? Ohhh - ich komm viel zu spät zur Schule, oder?«
    »Es ist elf.«
    Grace stöhnte auf und zuckte dann mit den Schultern. »Weißt du was? Ich hab keine einzige Stunde verpasst, seit ich auf der Highschool bin. Letztes Jahr hab ich sogar eine Auszeichnung dafür bekommen. Und eine Gratispizza oder so was.« Sie kletterte aus dem Bett; im

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