Nach Dem Sommer
ganz sachlich, als wüsste sie überhaupt nicht, was sie da mit mir anrichtete. »Ich will wissen, was dich zum Wolf macht.«
Das war einfach. »Ich verwandle mich, wenn die Temperatur sinkt. Wenn es nachts kalt und tagsüber warm ist, merke ich schon, dass es bald passiert. Dann ist es irgendwann kalt genug und ich bleibe ein Wolf, bis es wieder Frühling wird.«
»Die anderen auch?«
Ich nickte. »Je länger man schon ein Wolf ist, desto wärmer muss es werden, damit man wieder zum Menschen wird.« Ich hielt einen Augenblick inne und überlegte, ob nun der richtige Zeitpunkt war, es ihr zu sagen. »Niemand weiß, wie viele Jahre man sich hin- und herverwandeln kann. Das ist bei jedem Wolf anders.«
Grace sah mich nur an - mit demselben eindringlichen Blick, den ich schon von damals kannte, als sie im Schnee lag und zu mir aufsah. Aber auch jetzt konnte ich ihn nicht enträtseln. Mit einem Kloß im Hals wartete ich auf ihre Antwort, aber glücklicherweise fragte sie schon etwas anderes. »Wie viele gibt es von euch?«
Ich war nicht ganz sicher, viele von uns wurden ja gar nicht mehr zu Menschen. »Ungefähr zwanzig.«
»Was esst ihr?«
»Kleine Häschen.« Sie kniff die Augen zusammen. Ich grinste und fuhr fort: »Große Häschen auch. Ich sage immer, gleiches Recht für alle Häschen.«
Sie ließ sich nicht beirren. »An dem Abend, als ich dich anfassen durfte, was war das in deinem Gesicht?« Sie stellte die Frage mit unverändert ruhiger Stimme, doch sie bekam einen angespannten Zug um die Augen, als wüsste sie nicht, ob sie die Antwort auch hören wollte.
Es fiel mir schwer, mich an diesen Abend zu erinnern - ihre Hände in meinem Pelz, ihr Atem, der die feinen Härchen in meinem Gesicht streifte, die schuldbewusste Freude darüber, ihr so nahe zu sein. Der Junge. Der, der gebissen worden war. Das war es, was sie wissen wollte. »Meinst du, dass ich Blut im Gesicht hatte?«
Grace nickte.
Irgendwie war ich ein bisschen traurig, dass sie das wirklich fragen musste, aber eigentlich war es ja verständlich. Sie hatte schließlich keinen Grund, mir zu trauen. »Das war nicht von ihm - also von diesem Jungen.«
»Jack«, korrigierte sie mich.
»Jack«, wiederholte ich. »Ich wusste von dem Angriff, aber ich bin nicht dabei gewesen.« Ich musste ein bisschen tiefer in meinem Gedächtnis graben, damit mir wieder einfiel, woher das Blut an meiner Schnauze gekommen war. Mein menschlicher Verstand lieferte mir logische Erklärungen - ein Kaninchen, ein Reh, irgendetwas Totgefahrenes -, die alle sofort stärker waren als meine echten Wolfserinnerungen. Schließlich stieß ich in meinem Kopf auf die Wahrheit, aber stolz war ich nicht auf sie. »Das war eine Katze. Das Blut. Ich hatte eine Katze gefangen.«
Erleichtert atmete Grace aus.
»Macht es dir nichts aus, dass es eine Katze war?«, fragte ich.
»Irgendwas musst du ja essen. Und wenn es nicht Jack war, kann es meinetwegen auch ein Känguru gewesen sein«, entgegnete sie. Aber in Gedanken war sie ganz klar immer noch bei Jack. Ich versuchte mich an das wenige zu erinnern, was ich über den Angriff wusste; ich wollte nicht, dass sie schlecht über mein Rudel dachte.
»Er hat sie gereizt, weißt du«, fing ich an.
»Was hat er? Aber ich dachte, du warst gar nicht dabei.«
Ich schüttelte den Kopf und gab mir Mühe, es ihr zu erklären. »Wir können nicht... wenn wir miteinander kommunizieren, dann durch Bilder. Nichts Kompliziertes. Und es funktioniert auch nicht über große Entfernungen hinweg. Aber wenn wir zusammen sind, können wir uns einander in Bildern mitteilen. Und die Wölfe, die Jack angegriffen haben, haben mir Bilder gezeigt.«
»Ihr könnt also Gedanken lesen?«, hakte Grace ungläubig nach.
Energisch schüttelte ich den Kopf. »Nein. Wenn ich ein Men- ... wenn ich ich bin, kann ich es nicht so gut erklären. Das ist nur eine Art, als Wölfe miteinander zu reden, da funktioniert unser Verstand eben anders. Es gibt keine abstrakten Konzepte. Zeit, Namen, verwickelte Gefühle, so was steht dann außer Frage. Wir benutzen es eigentlich nur für die Jagd oder um die anderen zu warnen.«
»Und bei Jack, was hast du da gesehen?«
Ich senkte den Blick. Als Mensch nach einer meiner Wolfserinnerungen zu forschen, war ein seltsames Gefühl. Ich blätterte durch die verschwommenen Bilder in meinem Kopf und erkannte nach und nach, dass die roten Flecken in den Pelzen der Wölfe Schusswunden waren. Und das, was ihre Schnauzen verschmierte, war
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