Nach Dem Sommer
ich überzeugt -, hätte ich nicht die Kraft zu tun, was getan werden müsste.
Kapitel 21 - Sam (14°C)
A ls am nächsten Morgen um Viertel vor sieben Grace' Wecker für die Schule losging und mir endlose elektronische Tiraden ins Ohr quäkte, fuhr ich sofort auf, genau wie am Tag davor. Mein Herz klopfte wie wild. In meinem Kopf drängten sich die Träume: Wölfe und Menschen und blutverschmierte Lippen.
»Hmmmm«, grummelte Grace unwillig und zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. »Kannst du das ausmachen? Ich steh ja auf. Gleich ... in einer Minute steh ich auf.« Sie drehte sich um. Bis auf den blonden Schopf war kaum etwas von ihr zu sehen, und dann verschwand sie noch tiefer unter der Decke, als wäre sie mit der Matratze verschmolzen.
Und das war's. Sie schlief und ich war wach.
Ich lehnte mich gegen das Kopfteil des Betts und ließ ihr noch ein paar Minuten Ruhe. Warm und schlummernd lag sie neben mir. Ich strich ihr vorsichtig übers Haar, zog mit dem Finger eine Linie von ihrer Stirn ums Ohr herum und hinunter bis zu ihrem schlanken Nacken, wo die Haare noch gar keine richtigen Haare waren, sondern dieser babyweiche Flaum, der in alle Himmelsrichtungen abstand. Sie faszinierten mich, diese zarten Federchen, die einmal ihre Haare werden sollten. Ich musste wirklich an mich halten, um mich nicht hinunterzubeugen und ihr in den Nacken zu beißen, ganz sanft nur, sie aufzuwecken und zu küssen und dafür zu sorgen, dass sie zu spät zur Schule kam. Aber ich konnte nicht aufhören, an Jack und Christa und all die anderen zu denken, die schlechte Werwölfe abgaben. Würde ich Jacks Spur von der Schule aus noch folgen können, auch wenn mein Geruchssinn nun schwächer war?
»Grace«, raunte ich. »Wach auf.«
Sie gab ein leises Stöhnen von sich, das in Schlafsprache wohl so was wie »Verzieh dich!« bedeutete.
»Aufstehen!«, kommandierte ich und steckte ihr meinen Finger ins Ohr.
Grace quietschte und schlug nach mir. Jetzt war sie wach.
Unsere gemeinsamen Tage begannen mittlerweile mit einer entspannten Routine. Während Grace schlaftrunken unter die Dusche stolperte, steckte ich für jeden einen Bagel in den Toaster und bewegte die Kaffeemaschine irgendwie dazu, etwas zu tun, das zumindest so klang, als käme dabei Kaffee heraus. Zurück in Grace' Zimmer, hörte ich ihrem schiefen Duschgesang zu und zog meine Jeans an. Dann durchsuchte ich ihre Sockenschublade nach einem Paar, das nicht zu mädchenhaft für mich aussah.
Ich hörte, wie mir der Atem stockte, ohne es zu spüren. Da lagen Fotos, versteckt unter ihren ordentlich aufgerollten Socken. Fotos von den Wölfen. Von uns. Vorsichtig nahm ich den Stapel aus der Schublade und setzte mich damit aufs Bett. Mit dem Rücken zur Tür, als täte ich etwas Verbotenes, blätterte ich langsam durch die Bilder. Irgendwie fesselte es mich, diese Fotos mit menschlichen Augen zu betrachten. Einigen der Wölfe konnte ich ihre Menschennamen zuordnen - den älteren, die sich stets früher als ich verwandelt hatten. Beck, groß, wuchtig und blaugrau. Paul, schwarz und elegant. Ulrik, braungrau. Salem, mit der Kerbe im Ohr und dem tränenden Auge. Ich seufzte auf, obwohl ich nicht wusste, warum.
Hinter mir ging die Tür auf und ließ eine Dampfwolke herein, die nach Grace' Seife duftete. Grace trat hinter mich und legte mir den Kopf auf die Schulter; ich sog ihren Geruch tief ein.
»Na, bewunderst du dich?«, fragte sie.
Meine Finger, die noch immer mit den Fotos beschäftigt waren, erstarrten. »Was, ich bin auch dabei?«
Grace setzte sich mir gegenüber auf die Matratze. »Klar. Die meisten da drin sind von dir - erkennst du dich denn nicht? Ach, natürlich, wie solltest du auch? Erzähl mir, wer wer ist.«
Langsam blätterte ich noch einmal durch die Bilder. Grace rutschte neben mich und das Bett quietschte, als sie sich bewegte.
»Das hier ist Beck. Er kümmert sich immer um die neuen Wölfe.« Obwohl es nach mir eigentlich nur zwei neue Wölfe gegeben hatte: Christa und den Wolf, den sie erschaffen hatte, Derek. Tatsächlich war ich gar nicht an jüngere Neuankömmlinge gewöhnt - wenn unser Rudel Zuwachs bekam, dann meist durch andere ältere Wölfe, die sich uns anschlossen, und nicht durch wilde Neugebissene, wie Jack einer war. »Beck ist wie ein Vater für mich.« Laut ausgesprochen hörte es sich seltsam an, auch wenn es stimmte. Ich hatte es vorher nur niemandem erklären müssen. Er war derjenige, der mich unter seine Fittiche genommen hatte,
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