Nach Dem Sommer
es ihr, die nicht zum Rudel gehörte, auch erzählen durfte. Wie Beck immer gesagt hatte: Die Einzigen, die wir schützen müssen, sind wir selbst. Doch Beck kannte Grace nicht. Und Grace war nicht nur ein Mensch. Sie hatte sich zwar nicht verwandelt, aber sie war gebissen worden. Im Inneren war sie ein Wolf. Das musste sie einfach sein.
»Und was ist dann passiert?«, nahm Grace den Faden wieder auf. »Wonach habt ihr gejagt?«
»Häschen natürlich«, gab ich zurück. »Beck ist mit mir losgezogen, und Paul hat im Lieferwagen abgewartet, ob er mich nachher vielleicht nach Hause bringen musste, falls ich mich gleich danach zurückverwandelte.«
Ich konnte nicht vergessen, wie Beck mich an der Tür noch einmal aufgehalten und sich förmlich zusammengefaltet hatte, um mir in die Augen zu sehen. Ich hatte reglos dagestanden und versucht, nicht daran zu denken, wie ich mich gleich verwandeln und einem Hasen das Genick durchbeißen würde. Wie ich mich für den Winter von Beck verabschieden würde. Er hatte mir eine riesige Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: »Sam, es tut mir leid. Hab keine Angst.«
Ich hatte ihm nicht geantwortet, weil ich die ganze Zeit daran denken musste, dass es kalt war und dass Beck sich nach der Jagd nicht zurückverwandeln würde und dass ich dann niemanden mehr hätte, der wusste, wie ich meine Eier mochte. Beck machte das perfekte Rührei. Mehr als das. Beck sorgte dafür, dass ich Sam blieb.
Damals, als die Narben an meinen Handgelenken noch ganz frisch waren, war ich so nah daran gewesen, zu zerbrechen und zu etwas zu werden, was weder Mensch noch Wolf war.
»Worüber denkst du nach?«, fragte Grace. »Du erzählst ja gar nicht weiter.«
Ich sah zu ihr auf; mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich weggeschaut hatte. »Übers Verwandeln.«
Grace' Kinn drückte sich in meine Schulter, als sie mich ansah. Zögernd wiederholte sie die Frage, die sie mir schon einmal gestellt hatte. »Tut es weh?«
Ich dachte daran, wie langsam und quälend die Verwandlung vor sich ging, wie die Muskeln sich dehnten, die Haut sich spannte und die Kochen knirschten. Die Erwachsenen hatten immer versucht, mir aus dem Weg zu gehen, wenn es bei ihnen so weit war, um mir den Anblick zu ersparen. Dabei war es nicht ihre Verwandlung, die mir Angst einjagte - sie taten mir nur leid, denn selbst Beck stöhnte dabei vor Schmerzen. Es war die Tatsache, dass ich mich selbst auch verwandelte, wovor ich mich - auch jetzt noch - fürchtete. Davor, dass ich Sam vergessen würde.
Als schlechter Lügner versuchte ich es gar nicht erst. »Ja.«
»Es ist irgendwie so traurig, sich vorzustellen, dass du das schon als kleiner Junge durchmachen musstest«, meinte Grace, die mich mit gerunzelter Stirn ansah und den feuchten Glanz in ihren Augen fortblinzelte. »Es macht mich richtig fertig. Armer kleiner Sam.« Sie berührte mich mit dem Finger am Kinn; ich schmiegte die Wange in ihre Hand.
Mir fiel wieder ein, wie stolz ich damals gewesen war, weil ich bei der Verwandlung zum ersten Mal nicht geweint hatte, nicht so wie früher, wenn meine Eltern mich mit schreckensweiten Augen dabei beobachtet hatten. Ich erinnerte mich an Beck als Wolf, der mit großen Sätzen in den Wald voranlief, und ich erinnerte mich an den warmen, bitteren Geschmack meiner ersten Beute. Ich hatte mich wieder zurückverwandelt, nachdem Paul, eingemummelt in Mantel und Mütze, mich wieder aufgelesen hatte. Erst auf dem Weg nach Hause hatte mich die Einsamkeit eingeholt. Ich war allein; in diesem Jahr würde Beck nicht mehr zum Menschen werden.
Auf einmal war ich wieder acht Jahre alt, einsam und mit frischen Narben. Meine Brust schmerzte und ich rang mühsam nach Atem.
»Zeig mir, wie ich aussehe«, bat ich Grace und hielt ihr die Fotos hin. »Bitte.«
Sie nahm mir den Stapel aus der Hand, und ich sah, wie ihr Gesicht sich immer mehr aufhellte, während sie durch die Fotos blätterte und nach einem ganz bestimmten Bild suchte. »Hier. Das ist mein Lieblingsbild von dir.«
Ich schaute mir das Foto an, das sie mir hinhielt. Ein Wolf blickte mich daraus an, mit meinen Augen. Ruhig stand er im Wald und die Sonne ließ die Ränder seines Fells aufleuchten. Ich sah es mir an, eine Ewigkeit, und wartete darauf, dass es etwas in mir auslöste. Wartete auf das Prickeln der Erkenntnis. Es war ungerecht, dass die anderen Wölfe auf den Bildern mir so vertraut waren, ich mich
selbst jedoch nicht erkannte. Was an diesem Foto, an diesem Wolf, brachte
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