Nach Dem Sommer
als ich von zu Hause weggelaufen war, und derjenige, der die Scherben meiner geistigen Gesundheit wieder zusammengekittet hatte.
»Ich hab mir schon gedacht, dass er dir wichtig ist«, meinte Grace und schien überrascht über die eigene Intuition. »Deine Stimme hört sich anders an, wenn du über ihn sprichst.«
»Wirklich?« Jetzt war ich überrascht. »Wie denn?«
Ein wenig schüchtern zuckte sie mit den Schultern. »Keine Ahnung. Stolz oder so was. Ich find's süß. Und wer ist das hier?«
»Shelby«, antwortete ich, und diesmal lag in meiner Stimme bestimmt kein Stolz. »Von ihr hab ich dir schon erzählt.«
Grace sah mich prüfend an.
Bei der Erinnerung an Shelbys und meine letzte Begegnung zog sich mir der Magen zusammen. »Shelby und ich haben sehr unterschiedliche Einstellungen. Sie glaubt, ein Wolf zu sein, wäre ein Geschenk.«
Grace nickte und ich war froh, es dabei belassen zu können.
Ich ging die nächsten Bilder durch, noch mehr von Shelby und Beck, und hielt an, als ich bei Pauls schwarzer Gestalt anlangte. »Das ist Paul. Er ist der Rudelführer, wenn wir Wölfe sind. Der da neben ihm ist Ulrik.« Ich zeigte auf den braungrauen Wolf neben Paul. »Ulrik ist so eine Art durchgeknallter Onkel. Aus Deutschland. Er flucht andauernd.«
»Hört sich ja super an.«
»Ach, er ist echt klasse.« Oder war klasse, hätte ich wohl sagen sollen. Ich wusste nicht, ob dies hier schon sein letztes Jahr gewesen war oder ob ihm noch ein weiterer Sommer blieb. Sein Lachen fiel mir ein, wie ein Schwarm Krähen beim Abflug, und die Art, wie er sich an seinen deutschen Akzent klammerte, als wäre er ohne ihn nicht mehr Ulrik.
»Alles in Ordnung?«, fragte Grace und runzelte besorgt die Stirn.
Ich schüttelte den Kopf und starrte weiter auf die Fotos mit den Wölfen, die unverkennbar Tiere waren, wenn ich sie mit menschlichen Augen sah. Meine Familie. Ich. Meine Zukunft. Auf gewisse Weise verwischten die Fotos eine Grenze, die zu übertreten ich noch nicht bereit war.
Dann merkte ich, dass Grace den Arm um meine Schultern gelegt hatte, ihre Wange schmiegte sich an meine. Sie tröstete mich, obwohl sie doch unmöglich verstehen konnte, was mir solchen Kummer bereitete.
»Es wäre schön gewesen, wenn du sie alle kennengelernt hättest«, sagte ich, »als sie noch Menschen waren.« Ich wusste nicht, wie ich ihr erklären sollte, was für einen riesengroßen Teil von mir sie ausmachten, ihre menschlichen Stimmen und Gesichter, ihre Gerüche und ihr Aussehen als Wölfe. Und wie verloren ich mich nun fühlte, als Einziger in menschlicher Gestalt.
»Erzähl mir von ihnen«, murmelte Grace dumpf in mein T-Shirt.
Ich durchforstete meine Erinnerungen. »Als ich acht war, hat Beck mir das Jagen beigebracht. Ich fand's furchtbar.« Ich dachte daran, wie ich in Becks Wohnzimmer gestanden und aus dem Fenster in die Bäume gestarrt hatte, deren Zweige zum ersten Mal in diesem Winter frostbedeckt waren und blitzend in der Morgensonne aufleuchteten. Der Garten kam mir damals vor wie ein gefährlicher, fremder Planet.
»Was war daran so furchtbar?«, wollte Grace wissen.
»Ich wollte kein Blut sehen müssen. Ich wollte niemanden verletzen müssen. Ich war doch erst acht.« In meiner Erinnerung wirkte ich so klein, schmächtig, unschuldig. Den ganzen Sommer lang hatte ich versucht, mir einzureden, dass es diesen Winter, mit Beck, anders sein würde, dass ich mich nicht verwandeln und mich einfach ewig weiter von den Rühreiern ernähren würde, die Beck mir briet. Doch als die Nächte kälter wurden und meine Muskeln schon anfingen zu zittern, wenn ich nur kurz draußen war, wurde mir klar, dass es bald so weit sein würde. Bald würde ich die Verwandlung nicht mehr aufhalten können, und bald wäre auch Beck nicht mehr da, um mir Eier zu machen. Doch das hieß nicht, dass ich freiwillig gehen würde.
»Warum jagt ihr überhaupt?«, fragte Grace, wie immer ganz die Analytikerin. »Warum stellt ihr euch nicht was zu essen raus?«
»Ha, das hab ich Beck auch gefragt, und Ulrik meinte nur: >Ja, die Waschbären und Opossums würden sich freuen!«<
Grace lachte, mit mehr Begeisterung, als meine miese Imitation von Ulriks deutschem Akzent es verdient gehabt hätte.
Mir stieg die Röte in die Wangen; es tat gut, mit ihr über das Rudel zu reden. Ich liebte es, wie ihre Augen aufleuchteten, wie sie neugierig die Lippen schürzte - sie wusste, was ich war, und wollte mehr darüber erfahren. Aber das bedeutete nicht, dass ich
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