Nach Dem Sommer
oder?
»Warum hast du dir Waffenreiniger geborgt?«
»Tom hat ihn mir geliehen, damit ich mein Gewehr reinigen konnte, nachdem wir damit draußen waren. Ich weiß, ich müsste das eigentlich öfter machen, aber ich denke einfach nie daran, wenn ich es nicht benutze.«
»Tom Culpeper?«, hakte ich nach.
Dads Kopf kam wieder aus dem Schrank hervor. In der Hand hielt er eine Flasche. »Ja.«
»Du bist mit Tom Culpeper schießen gegangen? Das warst du neulich?« Meine Wangen wurden heiß. Ich hoffte so sehr, er würde Nein sagen.
Dad warf mir einen Blick zu. Einen von der Sorte, denen normalerweise ein Satz wie »Grace, du bist doch sonst immer so vernünftig« folgte. »Wir mussten doch irgendetwas tun, Grace.«
»Du warst in dieser Jagdtruppe? In der, die hinter den Wölfen her war?«, hakte ich nach. »Ich glaub's einfach nicht, dass du -« Das Bild von Dad, wie er durch den Wald pirschte, das Gewehr im Anschlag, die Wölfe, die vor ihm flohen, überwältigte mich plötzlich und ich konnte nicht weiterreden.
»Grace, ich hab das doch auch für dich getan«, begann er.
Meine Stimme war nur noch ganz leise. »Hast du einen von ihnen erschossen?«
Dad schien zu begreifen, dass diese Frage wichtig war. »Bloß Warnschüsse«, versicherte er.
Ich wusste nicht, ob das die Wahrheit war oder nicht, aber ich wollte einfach nicht mehr mit ihm reden. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab.
»Jetzt schmoll nicht«, sagte Dad. Er gab mir einen Kuss auf die Wange - ich ließ es reglos über mich ergehen -, dann nahm er seinen Kaffee und den Aktenkoffer. »Sei schön brav. Bis später.«
Ich stand in der Küche, die Hände um den blauen Becher gelegt, und hörte, wie Dads Taurus in der Auffahrt brummend zum Leben erwachte und dann langsam leiser wurde. Nachdem er weg war, legte sich die gewohnte Stille über das Haus, tröstend und deprimierend zugleich. Es hätte ein Morgen wie jeder andere sein können: Stille und in meiner Hand ein Kaffee, doch das war er nicht. Dads Worte - bloß Warnschüsse - hingen noch immer in der Luft.
Er wusste, wie ich über die Wölfe dachte, und trotzdem hatte er hinter meinem Rücken Pläne mit Tom Culpeper geschmiedet.
Es tat weh, so verraten zu werden.
Ein leises Geräusch im Flur riss mich aus meinen Gedanken. Sam stand in der Tür, sein Haar nass und stachelig vom Duschen, er sah mich an. In seinen Augen stand eine Frage, aber ich sagte nichts. Ich fragte mich, was Dad wohl tun würde, falls er je die Wahrheit über Sam erfahren sollte.
Kapitel 24 - Grace (11°C)
D en größten Teil des Morgens und Nachmittags verbrachte ich brütend über meinen Englischhausaufgaben, während Sam mit einem Roman in der Hand auf dem Sofa lümmelte. Es war wie eine sanfte Folter, mit ihm im selben Raum zu sein, zwischen uns nur ein Englischbuch, das uns aber umso strikter voneinander fernhielt. Nach ein paar Stunden, unterbrochen nur von einer kurzen Mittagspause, hielt ich es nicht mehr aus.
»Ich hab das Gefühl, wir verschwenden unsere gemeinsame Zeit«, platzte ich heraus.
Sam antwortete nicht und mir wurde klar, dass er mich nicht gehört hatte. Ich wiederholte, was ich gesagt hatte, und er blinzelte, seine Augen wanderten langsam zu mir, als er aus der Welt, in der er sich gerade befunden hatte, zurückkehrte. »Ich bin schon glücklich, hier einfach mit dir zusammen sein zu dürfen«, erwiderte er. »Das reicht mir vollkommen.«
Ich betrachtete sein Gesicht und versuchte, darin zu erkennen, ob er das ehrlich meinte.
Sam merkte sich die Seitenzahl und klappte behutsam das Buch zu. Dann fragte er: »Sollen wir irgendwohin fahren? Wenn du mit deinen Hausaufgaben fertig bist, könnten wir zu Becks Haus fahren und uns dort ein bisschen umsehen. Vielleicht finden wir heraus, ob Jack schon wieder da gewesen ist.«
Die Idee gefiel mir. Seitdem Jack an der Schule gesichtet worden war, fragte ich mich ständig, wo er wohl als Nächstes auftauchen würde. »Meinst du, er ist da?«
»Keine Ahnung. Aber neue Wölfe scheint es immer dahin zu ziehen, und das Leben des Rudels spielt sich größtenteils dort ab, in dem Teil des Boundary Wood hinter dem Haus«, erklärte Sam. »Wäre ja schön zu wissen, dass er endlich zum Rudel gefunden hat.« Er sah besorgt aus, doch er schwieg. Ich wusste nur, warum ich mir wünschte, dass Jack sich dem Rudel anschloss - weil ich nicht wollte, dass irgendjemand die Wölfe als das entlarvte, was sie waren. Aber Sam schien sich über etwas anderes Gedanken zu
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