Nach Dem Sommer
machen, etwas Größeres, das sich nicht so einfach in Worte fassen ließ.
Im goldenen Licht des Nachmittags saßen wir dann in meinem Bronco - ich fuhr und Sam wies mir den Weg zu Becks Haus. Wir mussten dafür gut fünfunddreißig Minuten lang der kurvigen Straße folgen, die um den Boundary Wood führte. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie weit der Wald sich erstreckte, bis wir einmal herum gefahren waren. Doch nur so ergab es einen Sinn; wie sollte sich schließlich ein ganzes Wolfsrudel versteckt halten, wenn nicht auf Hunderten Hektar unbewohnten Gebiets? Ich parkte den Bronco in der Auffahrt und blinzelte zu der Backsteinfassade hinauf. Die dunklen Fenster sahen aus wie geschlossene Augen; das ganze Haus wirkte beklemmend leer. Als Sam seine Tür aufmachte, wehte mir der süße Geruch der Kiefern in die Nase, die den Garten wie Wachposten umringten.
»Schönes Haus.« Ich starrte auf die großen Fenster, in denen sich die Nachmittagssonne spiegelte. Ein Backsteinhaus von dieser Größe hätte leicht protzig aussehen können, aber über dem Grundstück lag eine Atmosphäre, die irgendwie entwaffnend wirkte - vielleicht waren es die wuchernden, ungleichmäßig gestutzten Hecken auf
der Vorderseite oder das Vogelhäuschen, das aussah, als wäre es direkt aus dem Rasen emporgewachsen. Alles war so gemütlich. Genau so stellte ich mir das Zuhause vor, aus dem ein Junge wie Sam stammen könnte. »Wie ist Beck denn da rangekommen?«
Er runzelte die Stirn. »An das Haus? Er war früher Anwalt für reiche alte Knacker, daher hat er das Geld. Er hat es für das Rudel gekauft.«
»Das ist ja echt großzügig von ihm«, entgegnete ich und schlug die Autortür zu. »Mist!«
Sam lehnte sich über die Motorhaube und sah zu mir herüber. »Was ist?«
»Ich hab uns gerade aus dem Auto ausgesperrt, die Schlüssel stecken noch. Mein Gehirn lief wohl auf Autopilot.«
Sam machte eine wegwerfende Handbewegung. »Beck hat einen Dietrich im Haus. Den können wir uns holen, wenn wir aus dem Wald zurückkommen.«
»Einen Dietrich? Interessant«, sagte ich grinsend. »Ich mag Männer mit ungeahnten Tiefen.«
»Da bist du bei mir ja richtig«, erwiderte Sam. Er wies mit dem Kopf in Richtung der Bäume hinter dem Haus. »Bist du bereit?«
Die Vorstellung war gleichzeitig verlockend und beklemmend. Seit dem Abend, an dem die Jagd stattgefunden hatte, war ich nicht mehr im Wald gewesen, und das Mal davor hatte ich Jack gesehen, als er von den anderen Wölfen niedergedrückt wurde. Es kam mir so vor, als wären alle Erinnerungen an diesen Wald mit Gewalt verbunden.
Ich bemerkte, dass Sam mir seine Hand entgegenhielt. »Hast du Angst?«
Ich überlegte, ob es einen Weg gab, seine Hand zu nehmen, ohne dadurch zuzugeben, dass ich Angst hatte. Es war auch keine richtige
Angst. Nur so ein Gefühl, das mir über die Haut kroch und dafür sorgte, dass die Härchen an meinen Armen sich aufstellten. Es war kühl hier draußen, aber nicht wie diese leblose taube Winterkälte. Die Wölfe hatten genug zu fressen, es gab also keinen Grund für sie, uns anzugreifen. Wölfe sind scheue Tiere.
Sam nahm mich bei der Hand; sein Griff war fest und seine Haut fühlte sich in der kalten Herbstluft warm an. Nachdenklich sah er mich an, seine großen Augen leuchteten im sanften Licht des Nachmittags, und einen Moment lang hielt mich sein Blick gefangen. Ich erinnerte mich an diese Augen, die mich aus einem Wolfsgesicht beobachteten.
»Wir müssen auch nicht jetzt nach ihm suchen«, sagte er.
»Ich will aber gehen.« Das war die Wahrheit. Ein Teil von mir wollte sehen, wo Sam lebte während dieser kalten Monate, wenn er sich nicht am Ende unseres Gartens herumdrückte. Und ein anderer Teil von mir - der Teil, der vor Sehnsucht schmerzte, wenn ich nachts die Wölfe heulen hörte - verzehrte sich danach, dem schwachen Duft des Rudels in den Wald zu folgen. Das alles wog jedes bisschen Angst auf, das ich spürte. Um zu demonstrieren, wie bereit ich war, ging ich in Richtung Garten, auf den Waldrand zu. Sams Hand ließ ich dabei nicht los.
»Sie werden sich von uns fernhalten«, sagte Sam, als müsse er mich noch immer überzeugen. »Jack ist der Einzige, der näher kommen würde.«
Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an. »Ach ja, gut zu wissen. Er wird sich also nicht auf uns stürzen und uns zerfleischen wie in einem Horrorfilm, oder?«
»Wir sind keine Monster. Man verliert nur seine Hemmungen«, erklärte Sam. »Hat er vielleicht
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