Nach Dem Sommer
vornherein gewusst, dass Jack nicht hier sein würde, stimmt's?«
Seine dichten Augenbrauen rutschten noch ein Stück höher.
»Hattest du überhaupt vor, nach ihm zu suchen?«
Wie um sich zu ergeben, hob er die Hände. »Was willst du denn von mir hören?«
»Du wolltest bloß wissen, ob ich das hier wiedererkenne, oder?« Ich machte noch einen Schritt auf ihn zu und stand nun direkt vor ihm. Auch ohne ihn zu berühren, konnte ich in der zunehmenden Kälte seine Körperwärme spüren. »Du hast mir also irgendwie von diesem Wald erzählt. Wie hast du das gemacht?«
»Das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu erklären, aber du Dickkopf hörst ja nicht zu! So kommunizieren wir eben - eine andere Sprache haben wir nicht. Nur Bilder, ganz einfach Bilder. Du hast dich verändert, Grace. Man sieht es dir nur nicht an. Glaub mir doch endlich.« Die Hände noch immer erhoben, breitete sich ein zaghaftes Grinsen auf seinem Gesicht aus. Langsam schwand das Licht.
»Also hast du mich nur deswegen hierhergebracht? Um mir das hier zu zeigen?« Ich machte noch einen Schritt vor, er wich einen zurück.
»Gefällt's dir etwa nicht?«
»Das ist Vorspiegelung falscher Tatsachen.« Noch einen Schritt vor, noch einen zurück. Sein Grinsen wurde breiter.
»Sag schon, gefällt's dir?«
»Und du wusstest, dass niemand hier sein würde.«
Seine Zähne blitzten. »Gefällt's dir?«
Ich versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. »Das weißt du doch genau. Du hast es die ganze Zeit gewusst.« Ich wollte ihm einen weiteren Stoß verpassen, aber diesmal hielt er meine Handgelenke fest. Einen Augenblick lang blieben wir so stehen, er sah mit einem verschmitzten Lächeln zu mir herunter und ich zu ihm hinauf: Stillleben mit Junge und Mädchen. Jetzt wäre der perfekte Moment gewesen, mich zu küssen, aber er tat es nicht, sondern sah mich einfach nur an. Und als ich endlich auf die Idee kam, dass ich genauso gut ihn küssen könnte, sah ich, wie sein Lächeln erlosch.
Langsam ließ Sam meine Handgelenke sinken und löste seinen Griff. »Das freut mich«, murmelte er.
Mit hängenden Armen stand ich da und sah ihn finster an. »Eigentlich hättest du mich jetzt küssen sollen.«
»Ich hab drüber nachgedacht.«
Ich wendete den Blick nicht von seinen weichen, melancholisch geschwungenen Lippen, die genauso aussahen, wie seine Stimme klang. Vermutlich starrte ich ihn an, aber ich musste einfach die ganze Zeit daran denken, wie gern ich ihn geküsst hätte und wie blöd es war, sich das so sehr zu wünschen. »Warum tust du s dann nicht?«
Er beugte sich vor und gab mir den flüchtigsten Kuss, den man sich nur vorstellen kann. Beinahe höflich streiften seine kühlen, trockenen Lippen meine - es war zum Verrücktwerden.
»Ich muss bald wieder rein«, flüsterte er. »Es wird kalt.«
Erst jetzt spürte ich den schneidenden Wind, der mir trotz der langen Ärmel eisig in die Glieder fuhr. Eine frostige Bö wirbelte die Blätter vom Boden auf und einen winzigen Augenblick lang, meinte ich, roch es nach Wolf.
Sam erschauderte.
Und als ich in dem dämmrigen Licht einen Blick auf sein Gesicht erhaschte, sah ich darin Angst.
Kapitel 25 - Sam (3°C)
W ir rannten nicht zurück zum Haus. Wenn wir gerannt wären, hätte ich damit etwas bestätigt, was ich vor ihr noch nicht zuzugeben bereit war - etwas, das ich war. Dafür machten wir Riesenschritte, stapften durch vertrocknete Blätter und Zweige und übertönten die anderen Geräusche dieses Abends mit unseren Atemzügen. Die Kälte schlängelte sich unter meinem Kragen hindurch, Gänsehaut überzog meinen Körper.
Ich durfte nur ihre Hand nicht loslassen, dann würde mir nichts passieren.
Wenn wir nur einmal falsch abbogen, würden wir uns vom Haus wegbewegen, aber ich konnte mich trotzdem nicht auf die Bäume ringsum konzentrieren. Immer wieder flackerten Erinnerungen an Menschen in mir auf, die sich in Wölfe verwandelten, Hunderte von Verwandlungen, die ich in den Jahren im Rudel miterlebt hatte. Das erste Mal, dass Beck sich verwandelt hatte, stand noch sehr lebendig vor mir - wirklicher als der grellrote Sonnenuntergang, der gleißend durch die Bäume vor uns drang. Ich erinnerte mich an das kalte weiße Licht, das durch die Wohnzimmerfenster in Becks Haus strömte, und an seine bebenden Schultern, als er die Arme gegen das Sofa stemmte.
Ich stand neben ihm und sah zu ihm hoch, wortlos.
»Bringt ihn raus!«, brüllte Beck mit zum Flur gewandtem Gesicht, die Augen halb
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