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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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geschlossen. »Ulrik, bring Sam hier raus!«
    Ulriks Finger legten sich damals genauso fest um meinen Arm, wie die von Grace nun meine Hand umschlossen. Sie zog mich mit sich durch den Wald, führte uns wieder zurück über den Pfad, den wir zuvor verlassen hatten. Zwischen den Bäumen lauerte schon die Nacht, kalt und schwarz, und wartete darauf, uns zu überholen. Aber Grace wendete den Blick nicht von der Sonne, die durch die Bäume funkelte, und ging direkt darauf zu.
    Die leuchtende Aureole der Sonne blendete mich, verwandelte die Bäume in dunkle Scherenschnitte, und mit einem Mal war ich wieder sieben Jahre alt. Plötzlich sah ich das Sternenmuster meiner alten Bettdecke so deutlich vor mir, dass ich stolperte. Meine Hände krallten sich in den Stoff, zerknautschten und zerrissen ihn.
    »Mama!« Auf der zweiten Silbe überschlug sich meine Stimme. »Mama, mir wird schlecht!«
    Ich lag auf dem Boden in einem Wust aus Decken, Getöse und Erbrochenem und zitterte, meine Nägel fuhren über die Dielen in dem Versuch, irgendwo Halt zu finden, als meine Mutter an die Zimmertür trat, eine vertraute Silhouette. Ich sah sie an, meine Wange noch immer auf den Boden gepresst; ich wollte sie rufen, aber es kam kein Laut.
    Sie ließ sich neben mir auf die Knie fallen, und dann sah sie, wie ich mich zum ersten Mal verwandelte.
    »Na endlich«, seufzte Grace erleichtert und holte meine Gedanken schlagartig in den Wald um uns zurück. Sie klang außer Atem, als wären wir gerannt. »Da sind wir.«
    Ich durfte nicht zulassen, dass Grace sah, wie ich mich verwandelte. Ich durfte mich jetzt nicht verwandeln.
    Ich folgte Grace' Blick zur Rückseite des Hauses, das gegen den frostig blauen Abend in warmem Rotbraun aufleuchtete.
    Und jetzt rannte ich.
    Zwei Schritte vor dem Auto lösten sich all meine Hoffnungen, mich im Bronco aufwärmen zu können, in nichts auf, als Grace vergebens an der verschlossenen Tür rüttelte. So fest, dass die Schlüssel am Zündschloss hin- und herschaukelten.
    Grace zog eine frustrierte Grimasse. »Dann müssen wir eben versuchen, ins Haus zu kommen.«
    Wir mussten nicht einbrechen. Beck versteckte immer einen Ersatzschlüssel in der Verkleidung der Hintertür. Ich bemühte mich, nicht an den Autoschlüssel im Zündschloss des Broncos zu denken; wenn wir den jetzt gehabt hätten, wäre mir sicher schon wieder warm. Meine Hände bebten, als ich den Ersatzschlüssel hervorzog und probierte, ihn in das Schloss zu manövrieren. Doch die Schmerzen holten mich schon ein. Beeil dich, du Idiot. Los, beeil dich.
    Ich konnte einfach nicht aufhören zu zittern.
    Ohne die geringste Spur von Angst nahm Grace mir den Schlüssel aus der Hand, als wüsste sie, was gerade geschah. Sie umschloss meine kalten, zitternden Finger mit ihrer warmen Hand, mit der anderen steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
    Lieber Gott, bitte mach, dass der Strom an ist. Mach, dass die Heizung an ist.
    Sie nahm mich am Ellbogen und schob mich in die dunkle Küche. Ich wurde die Kälte nicht los, sie hatte sich eisern in mich verbissen. Meine Muskeln verkrampften sich. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, die Schultern gekrümmt.
    »Nein«, sagte Grace mit ruhiger, fester Stimme, so als beantworte sie damit eine Frage. »Nein, komm jetzt.«
    Sie zog mich von der Tür weg und schlug sie hinter mir zu. Suchend fuhr sie mit den Händen über die Wand, fand den Lichtschalter und das Licht flammte auf; wie durch ein Wunder erwachte es über uns zu grellem, fluoreszierendem Leben. Wieder zog mich
    Grace am Arm, weg von der Tür, doch ich wollte mich nicht bewegen. Ich wollte nichts, als mich zusammenzurollen und es einfach geschehen zu lassen. »Ich kann nicht, Grace. Ich kann nicht.«
    Ich wusste nicht, ob ich es laut ausgesprochen hatte oder nicht, aber selbst wenn, hörte sie mir gar nicht zu. Stattdessen setzte sie mich auf den Boden, direkt vor das Gitter eines Heizungsschachts, dann zog sie die Jacke aus und legte sie mir über Kopf und Schultern. Schließlich hockte sie sich vor mich und versuchte, meine kalten Hände an ihrem Körper zu wärmen.
    Ich bibberte und biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, bemüht, mich auf Grace zu konzentrieren, auf meine Menschlichkeit, aufs Warmwerden. Sie sagte etwas, ich verstand es nicht. Sie redete zu laut. Alles war zu laut. Und dieser Geruch. So nah bei ihr zerbarst ihr Geruch förmlich in meiner Nase. Es tat weh. Alles tat weh. Leise fing ich an zu

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