Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
plötzlich nicht mehr da warst.«
    »Mein Engel, ich würde dich mitnehmen, wenn ich könnte«, sagte ich und staunte im selben Moment über das Wort »Engel«, das mir so leicht über die Lippen gekommen war, und darüber, dass es sich genau richtig anfühlte, sie so zu nennen. Ich strich ihr durchs Haar, meine Finger verhakten sich in den Strähnen. »Aber glaub mir, du willst das nicht. Ich verliere jedes Jahr ein bisschen mehr von mir selbst.«
    Grace' Stimme klang plötzlich fremd. »Sag mir, was passiert. Am Ende.«
    Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, was sie meinte. »Ach, das Ende.« So viele Arten, es zu beschreiben, so viele Farben, um es zu schildern. Grace würde nicht auf die rosarote, geschönte Version hereinfallen, die Beck mich am Anfang glauben machen wollte, also sagte ich ihr die Wahrheit. »Jedes Jahr im Frühling verwandle ich mich später in mich - in einen Menschen - zurück. Und irgendwann dann wohl gar nicht mehr. Ich hab das schon bei den älteren Wölfen erlebt. Sie verwandeln sich einfach nicht zurück in Menschen und sind nur noch ... Wölfe. Sie leben ein bisschen länger als normale Wölfe. So fünfzehn Jahre - aber trotzdem ...«
    »Wie kannst du so über deinen eigenen Tod sprechen?«
    Ich sah sie an. Ihre Augen schimmerten im Dunkeln. »Wie sollte ich denn sonst darüber reden?«
    »So, als würde es dir was ausmachen.«
    »Es macht mir was aus. Jeden Tag.«
    Grace schwieg, aber ich sah ihr an, wie sie meine Worte im Kopf noch einmal durchging, jedes Detail wurde ordentlich an seinen Platz gelegt. »Du warst ein Wolf, als du angeschossen wurdest.«
    Am liebsten hätte ich ihr einen Finger auf die Lippen gelegt, um die Worte, die sie formten, zurück in ihren Mund zu drücken. Es war zu früh. Ich wollte nicht, dass sie es schon aussprach.
    Aber Grace redete weiter, so leise, dass ich sie kaum hörte. »Du hast den heißesten Monat dieses Jahres nicht miterlebt. Es war gar nicht so kalt, als du angeschossen wurdest. Es war kalt, aber nicht so wie im Winter. Und trotzdem warst du ein Wolf. Wann bist du in diesem Jahr überhaupt ein Mensch gewesen?«
    »Ich kann mich nicht erinnern«, flüsterte ich.
    »Was, wenn sie dich nicht angeschossen hätten? Wann wärst du wieder du geworden?«
    Ich schloss die Augen. »Ich weiß es nicht, Grace.« Jetzt wäre der
    Moment gewesen, es ihr zu sagen. Dies ist mein letztes Jahr. Aber ich konnte es nicht. Noch nicht. Ich brauchte noch eine Minute, eine Stunde, eine Nacht mehr, in der wir so tun konnten, als wäre dies nicht das Ende.
    Grace atmete langsam, zitternd ein, und etwas in der Art, wie sie es tat, sagte mir, dass sie es wusste. Sie hatte es die ganze Zeit über gewusst.
    Sie weinte nicht, aber ich hätte es am liebsten getan.
    Grace vergrub ihre Finger wieder in meinem Haar, meine lagen noch immer in ihrem. Unsere Arme drückten sich aneinander in einem Knäuel aus kühler Haut. Jedes kleinste Reiben an ihrem Arm löste einen winzigen Funken ihres Dufts los, ein schmerzhaft verlockendes Gemisch aus blumiger Seife, süßem Schweiß und dem Verlangen nach mir.
    Ich fragte mich, ob sie wohl ahnte, wie durchschaubar ihr Geruch sie machte, wie er mir verriet, was sie fühlte, wenn sie es auch nicht laut aussprach.
    Natürlich hatte ich bemerkt, wie sie genauso oft wie ich in die Luft schnupperte. Sie musste wissen, dass sie mich um den Verstand brachte, dass jede Berührung ihrer Haut meine eigene wie vor Elektrizität kribbeln ließ.
    Jede Berührung drängte die Wirklichkeit des nahenden Winters ein Stück weiter in die Ferne.
    Wie zur Bestätigung meiner Gedanken rückte Grace ein Stück näher, sie trat die Decken zur Seite, die zwischen uns lagen, und drückte ihren Mund auf meinen. Ich ließ zu, dass sie meine Lippen teilte, ich seufzte, kostete ihren Atem. Ich hörte, wie sie kaum wahrnehmbar aufkeuchte, als ich meine Arme um sie schlang. Jeder meiner Sinne verzehrte sich danach, ihr näher zu rücken, näher, so nah, wie ich nur konnte. Sie wand ihre nackten Beine um meine und wir küssten uns, bis uns der Atem ausging, und drängten uns nur noch näher aneinander. Erst ein fernes Heulen draußen vor dem Fenster holte mich zurück in die Wirklichkeit.
    Grace seufzte ein wenig enttäuscht, als ich meine Beine aus ihrer Umklammerung löste. Mein Verlangen war so groß, dass es schmerzte. Ich drehte mich so, dass ich wieder neben ihr lag, die Finger noch immer in ihrem Haar vergraben. Wir hörten den Wölfen zu, die vor dem

Weitere Kostenlose Bücher